Gespräche Teil 6

19a ©ARTEC

Die Identität einer Stadt


QUER   Mich würde jetzt interessieren: Kommen in 50 Jahren die Leute nach Wien und sagen: „Wir schauen uns jetzt den neuen Bahnhof an, wir schauen uns Aspern an!“ Wird das so sein?

HOFSTÄTTER   Die Identität einer Stadt wird von den sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Innovationen einer Epoche geprägt. Wir Architekten sind allerdings auch für das stadträumliche Kontinuum mitverantwortlich – das sich aus mehr oder weniger gelungenen Einzelarchitekturen zusammenfügt, deren spezifische Qualitäten Identität stiften können. Das hat aber nicht zuletzt mit der Wahrnehmung der Rezipienten in der jeweiligen Zeit und deren kulturellem Hintergrund zu tun. Insofern interessiert mich da mehr das gegenwärtige Empfinden, das Gefühl für die Gegenwart einer Stadt. In Wien fehlt das noch.

ANDEL   (zu Jakoubek) Und wenn du vorhin die mangelnde Rendite in Wien angesprochen hast, dann ist das historisch gewachsen. Aber das hängt auch mit der Zukunftserwartung zusammen! Und wenn ich Wien in einem europäischen Rahmen positioniere: Wir leben in einer globalen Wirtschaft, wo auch große Kompagnies und Operations sich überlegen, wo sie hingehen. Und dann sehen sie Wien und gehen auf den Opernball. Aber sie sehen keinen Anlass, Viertel wie La Défense oder andere Districts in Wien zu suchen.


19b ©Markus Pillhofer


HOFSTÄTTER   Es gibt auch andere gegenwartsbe-zogenere Beispiele in der österreichischen Kultur, die nicht nur der Repräsentation dienen, sondern kom-plexe gesellschaftliche Phänomene reflektieren, ohne künstlerische, ästhetische Ansprüche aufzugeben.

Ich denke dabei an die Erfolge des österreichischen Films. Während den Künstlern eine substantielle Autonomie zusteht, agieren Filmregisseure – ähnlich den Architekten – heteronom. Auch der Film ist auf Fremdfinanzierungen angewiesen, das Gelingen ist vom Team abhängig, ohne internationale Teilhabe geht fast gar nichts. Und trotzdem entstanden gerade hier und jetzt großartige Filme.

Man sieht, hört, liest in den Medien von den Regisseuren, Schauspielern, Kameraleuten, weniger von den Filmbehörden, Filmagenten, Filmrepräsentanten, Filmkommissären. In der Architektur und Stadtdebatte weisen die Indizien in eine andere Richtung  …

JAKOUBEK   … Manchmal ist es besser, vorerst nichts zu machen und zu sagen: „Lasst das frei, wenn irgendwo ein freier Quadratmeter ist, damit man dann, wenn eine Eingebung da und der Druck groß ist, was machen kann!“ Da gehen wir in Richtung Bodenpolitik. Jede halbwegs vernünftige Stadt mit vorausschauender Bodenpolitik schaut, selbst die Liegenschaften in den Händen zu halten, um dann etwas damit machen zu können. Da bin ich weitaus flexibler, mit Widmungen kann ich mir als Stadt bei den Liegenschaften ja selbst helfen …
    Wenn wir Bauarbeiten ausschreiben, schreiben wir das so breit und flexibel aus, dass wir dann (ein Bau ist in der Regel zwei Jahre) auf veränderte Nutzer­ansprüche noch Rücksicht nehmen können. Was uns da in der Regel behindert, ist die Widmung. Sie gibt diese Flexibilität nicht mehr her, d.h. Erkenntnis­gewinne können während der Entwicklung kaum mehr umgesetzt werden. Wir legen heute sehr konkret fest, was in zehn, vielleicht 20 Jahren zur Umsetzung kommt, dann fangen wir wieder an mit dem Planungsdurchlauf und und und … das ist nur Beschäftigungspolitik.

PRIX   Konkrekt: Welche Regeln behindern diese Entwicklung?

JAKOUBEK    Der Bebauungsplan wird in einer sehr frühen Phase festgelegt. Ich stoße im Entwicklungsprozess mit den Architekten an Grenzen. Dann gibt es Wettbewerbe, immer wieder neue Wettbewerbe! An manchem Standort machen wir (bis zu) drei Wettbewerbe! Das ist mühsam! Mein Rat an die Politik wäre, Entwicklungsräume großflächig zu überdenken und eine stufenweise Konkretisierung in der Widmung. Warum ist in Wien Mitte 25 Jahre nichts passiert? Das hat auch damit zu tun, dass man bei diesem Projekt bis zu 70 Prozent höhere Kosten auf Basis der letzten Widmung hat als bei anderen Projekten.

DELUGAN   War es die Größenordnung?

JAKOUBEK    Die Mieten orientieren sich am Umfeld und lassen diese Sprünge nicht zu. Wir haben gekauft und zweieinhalb Jahre danach mit dem Bau begonnen, weil wir uns das zugetraut haben. Und letztlich hatten wir auch ein biss’l Glück! Das war schwierig genug.

HOFSTÄTTER   Vielleicht nicht nur (an) die Politiker. Die Spielregeln sollten mitunter transparenter werden. Und nicht zu sehr in Spielregeln involvierte Architekten würden vielleicht das Ganze als Teil der Stadt sehen, deren Netz sich im großmaßstäblichen Gebäude verdichtet, ja die Stadt in sich fortsetzt, auch künstlerisch überhöht.

JAKOUBEK    Ich muss vorher als Politiker wissen: Was ist dort mein Wunschgedanke? Wenn die Dichte nicht umsetzbar ist, darf ich das auch keinem privaten Investor zumuten. Letztlich ist für uns alles gut ausgegangen, besser als prognostiziert, wir haben noch zusätzliche 12 Millionen für Architektur investiert, bei den Fassaden hätten wir einsparen können, haben wir dann aber nicht gemacht, trotz Vollvermietung. Es war jedenfalls so, dass sich 25 Jahre keiner gefunden hat, der das freiwillig macht.

PRIX   So sieht es in jeder Stadt aus! Ich denke, dass Wien einen großen Fehler gemacht hat bei diesen großen Projekten, die das Image der Stadt prägen. Ich will nicht sagen, dass alle Projekte Zwergpudelästhetik entwickeln, aber das prägt das Stadtbild schon. Gibt es eine Metaebene in dieser Stadt? … Ich finde es ja toll, dass wir uns jetzt mit Transdanubien beschäftigen und sich dort vielleicht ein neues Stadtzentrum entwickelt. Könnte ja sein, dass eine neue Definition einer Stadt … aber wollen die Wiener das? Wollen die Wiener in Wien überhaupt was?

JAKOUBEK    Die meisten Leute wollen das, was sie haben, nur ein biss’l bequemer. Es darf sich wirklich nichts wesentlich verändern!

DELUGAN   Die Lebensqualität ist enorm hoch – nichtsdestotrotz sollten wir uns nicht darauf berufen, im Gegenteil, daran sollte man arbeiten. Wien ist noch immer als eine der Städte mit höchster Lebensqualität geratet – das Bild dazu: der Stephansdom, der erste Bezirk, der Prater etc. Zeitgenössische Architektur ist da schon sehr marginal vertreten – sie hinterlässt wenig Spuren –, das zu ändern ist notwendig … Es wird bemängelt, dass sich Shopping-Center ungeordnet in der Peripherie entwickeln.
    Wir arbeiten gerade an einem Wettbewerb in China, wo ein Shopping-Center von 500.000 Quadratmetern direkt vor dem Kaiserpalast unterirdisch entwickelt werden soll – ich will damit ausdrücken, dass mich der Mut der Verantwortlichen beeindruckt. Was ich bedauere, ist die Durchschnittlichkeit, mit der man sich sehr oft begnügt. Wenige Touristen kommen wegen neuer Stadtentwicklungskonzepte nach Wien – es sind vielmehr singuläre Bauvorhaben, die nur in beschränktem Ausmaß besichtigt werden. Ich bin ein Befürworter der Ikonenarchitektur, die hat es vom Stephansdom bis zur Nationalbibliothek immer gegeben – Funktionsbauten mit hoher architektonischer Qualität.


20b ©DMAA Delugan Meissl


MANAHL   Ich habe mir vor diesem Gespräch überlegt, welches die neuesten Gebäude in Wien sind, die mir einfallen, wo der Begriff Ikone vielleicht angebracht ist. Eines ist das T-Center von Günther Domenig, nichts weiter als ein reines Bürogebäude, ein Investorenobjekt, wie es vom Inhalt her überall gebaut wird. Sie, Herr Jakoubek, haben das ja mitentwickelt. Es geht also doch, wenn die Voraussetzungen, also, wer das plant, stimmen. Domenig hat es geschafft etwas zu bauen, was die Wahrnehmung und Identifikation der Stadt mitprägt, etwas, das Ikonen eben leisten können.
    Das zweite Objekt ist ein öffentliches Gebäude von Johann Georg Gsteu, eine Müllsammelstelle am Meidlinger Markt. Ein hervorragend durchge­arbeiteter kleiner Bau, der außerordentlich filigran und mit kinetischen Fähigkeiten ausgestattet ist, die sich Peter Cook vielleicht gewünscht hat. Man muss sich das vorstellen, der einzige öffentliche Bau der Stadt Wien der letzten Jahre, der mir als wirklich außerordentliches Bauwerk einfällt, ist eine Müllsammelstelle.
    Das hat massiv damit zu tun, wie zum Beispiel Wettbewerbsjurys für diese Aufgaben der Stadt besetzt werden. Man kann auch sagen, die Stadt wird mit Ausnahme des Wohnungsbaus im Wesentlichen von den falschen Leuten gebaut.

JAKOUBEK   Das T-Center ist so entstanden, ein anderes Beispiel ist der Tower in der Donau City. Bei der städtebaulichen Entscheidung waren fünf Leute dabei, die entschieden haben. Fünf Leute.
    Wir brauchen eine Metaebene für die Stadt! So wie es jetzt ausschaut, würde man meinen, das war ich. Aber das waren zwei Personen: Dominique Perrault und meine. Aus. Das hat gefehlt in Wien Mitte. Ich war bei Wien Mitte der Einzige, der in der Jury dagegen war, weil ich gesagt habe: „So, wie ihr das macht’s, so unten ist das zu dicht im Erdgeschoßbereich.“ Eine einzige Gegenstimme, also wurde so gebaut!

HOFSTÄTTER   Es stellt sich die Frage, wie sich eine Metaebene für eine Stadt wie Wien überhaupt definieren lässt, wie sie dargestellt werden kann? Wir beziehen uns daher – wie anfangs erwähnt – auf Stadtszenarien als Denkmodelle …


20a ©Markus Pillhofer


ANDEL   Es gibt einen Grund, warum es die Metaebene derzeit (noch) nicht gibt – Wien hat nach 1945 aus einer Serie glücklicher Umstände profitiert. In der Nachkriegszeit von der geopolitischen Lage, die von einer weitsichtigen Politik geschickt genutzt wurde, Stichwort UNO-City und Konferenzzentrum. Seit 1989 und 1995 kassiert Wien „windfall profits“ in Form von Zuwanderung und Wachstum – und die Umstrukturierungen z.B. in der ÖBB haben Flächen verfügbar gemacht, wo auch der Wachstumsbedarf abgedeckt werden konnte. Wir wissen von Flächenanalysen, dass es auch in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch keinen Engpass geben wird. Was aber jetzt passiert, ist der Engpass auf der Metaebene: Wenn wir an die Phase in zehn bis 20 Jahren denken, dann braucht es jetzt Weichenstellungen, und dort sehen wir schon jetzt die Engpässe … 

Das ist eine wesentliche Herausforderung für die Politik, Verwaltung und Medien, hier eine öffentliche Einstellung zu erzeugen, dass Lebendigkeit gefragt ist. Ja, natürlich Umweltschutz, ja, aber die Frage ist, ob man Besitzstandswahrung haben möchte und Konfliktvermeidung in der Bezirks- und Stadtpolitik, oder ob man hier den Mut hat, sich in einen Prozess hineinzubegeben, der in sich bereits lebendig ist und aus den Fachmilieus hinausgeht.

Wo in breiterer Öffentlichkeit zwischen Wirtschaft, Politik und Verwaltung, Architekten, kreativer Szene … Diskurs passiert, nicht Schuldzuweisung.

MANAHL   Wien ist eine sehr harte Stadt. Straßenasphalt, Parkplatz Asphalt, Gehsteig Asphalt, Häuserfront aus Ziegeln, Straßenbreite 15 Meter 17. Das ist über große Bereiche der Stadt so. Sehr massiv, kaum öffentlicher Raum dazwischen, wenige Parks.
    Wien hat sich in der letzten Vergangenheit zum Großteil über den Wohnbau definiert. Das ist der Bereich, wo – international betrachtet – etwas geleistet worden ist. Wo es Prozesse gegeben hat, die Vorgänge kontrollieren, über die Förderung, und wo Qualität im Wettbewerb gefordert war. Wo auch in den zuständigen Gremien Leute mit einer Ahnung von der Sache und der notwendigen Durchsetzungskraft und Autorität gesessen sind. Leider ist da auch
der Fehler gemacht worden, dass nur Flächen für Wohnen gefördert werden, keine Sondernutzungen, Geschäfts- und Gewerbeflächen, Büros. Da entsteht eben Monokultur.
    Die heutige Chance für die Stadt müsste im Finden einer neuen Art von Urbanität liegen, konträr zum harten Charakter der historischen Stadt, definiert natürlich über den Wohnbau. Der Wohnbau ist das Fleisch der Stadt …
    Wir haben massiv versucht, unsere Arbeit in den letzten Jahren hauptsächlich über den Wohnbau zu definieren, immer mit dem Hintergrund, dass neben den guten Wohnungen Luft in der Struktur untergebracht werden muss, um zusätzlich brauchbaren Raum für die Bewohner außerhalb der Wohnung zu schaffen, aber auch um in diesen Monostrukturen Platz zu lassen für Entwicklungen in der Zukunft, die wir heute ja noch gar nicht kennen.

PRIX   Ist jetzt der Wohnbau mit 10.000 Wohnungen die Metaebene? Ist das jetzt unser Städtebau?

MANAHL   Nicht die Metabene, aber ganz eine wesentliche.

PRIX   Metabene transportiert eine Idee für eine Stadt. Ich habe es vorhin gesagt. Die grüne Stadt, die Weltstadt inmitten von Europa, ist es der Flugzeugträger der westlichen Welt gegenüber der östlichen?

PÁLFFY   Eine gesellschaftspolitische Verantwortung in der Architektur ist für mich eine, die unter dem Überbegriff der grünen Stadt läuft. Die Stadt hat sich stets erneuert über Bedingungen, die immer von Infrastrukturen jeglicher Art bestimmt waren. Das ist ein charakteristischer Themenschwerpunkt seit eh und je!
    Deshalb glaube ich, dass dies ein prägender Aspekt ist und bleibt, den ich daher auch gerne als große Überschrift nehmen würde, zumal er an die Architektur in Zukunft erhebliche Anforderungen stellen wird.

DELUGAN Für mich ist Identifikation immer noch der wesentliche Aspekt. Von Bogdan Bogdanović stammt das Zitat: „Ich bin eine kleine Stadt, die Stadt ist ein kleines Ich.“ Genau das muss ich leben! Die türkischen Immigranten tragen Wesentliches zur Vitalität des 16. Bezirks bei – ein Flair von Süden in Wien.

PRIX   Ich bin erstaunt, was für unheimliches Wissen hier am Tisch sitzt, Wissen, das nicht genutzt wird. Kann sich das eine Stadt überhaupt erlauben? Welche Methoden erfindet eine Stadt, das Wissen zu nutzen und umzusetzen? In welcher Art auch immer: trial and error …
    Wenn wir es nicht schaffen, dieses offene vernetzte System zu einem Erfolg zu führen, wo Ergebnisse als Trial-and-Error-Systeme realisiert werden, dann haben wir im Sinne von kultureller Entwicklung verloren.
    Was ich mir von Wien wünsche, ist, dass es ein role model wird, dass wir nicht dort oder dahin schauen, wie wo was gemacht wird, sondern dass die anderen, wer auch immer, zu uns kommen!