Einsame Spitze

Ein Gespräch am Semmering mit dem österreichischen Alpinisten und Skyrunner Christian Stangl (47) über Weltrekorde, Management-Vorträge, den gefährlichsten Berg der Welt, seine besondere Erfahrung in der Atacamawüste mit Wüstenfuchs und Zuris sowie seine bevorstehende Argentinienreise.

von DORIS LIPPITSCH

Stangl beim Training,Khan Tengri, Tian-Shan-Gebirge im Grenzgebiet von China, Kirgistan und Kasachstan, 1993, Antarktis-Reise 2007,von China, Kirgistan und Kasachstan, 1993Atacamawüste 2005 ©Christian Stangl

Sie haben mehrere Weltrekorde gebrochen und als erster Mensch die jeweils drei höchsten Gipfel auf allen sieben Kontinenten bezwungen. Ist das heute im Extremsport ohne Doping möglich? Wurden Sie nie mit einem Doping-Verdacht konfrontiert?

Christian Stangl: Aber sicher, eine vermehrte Hämoglobin-Bildung aufgrund des niedrigeren Sauerstoffanteils in der Höhe ist ein natürlicher Anpassungseffekt. Das kann man auch künstlich mit EPO (EPO-Doping, Erythropoetin, Anm.) bewirken.

Was eine extreme sportliche Leistung verbessert?

Mit der Höhenanpassung produziert der Körper also mehr Hämoglobin, dabei verdickt sich aber auch das Blut, weil sich das Blutvolumen selbst nicht vergrößern kann. Wenn ein Körper gut in der Höhe angepasst ist, führt das automatisch dazu, dass er mehr Sauerstoff transportieren kann. Und genau das nützen z. B. Langläufer am Dachstein. Je höher sie also trainieren, desto besser ihre Leistung. Es geht dabei nur um den Sauerstofftransport. Die Verdickung des Blutes erfordert eine Mehrleistung vom Herzen. Nähme ich in der Höhe zusätzlich EPO verdickte sich das Blut zunehmend, dabei käme es zu einem Umkehreffekt.

Zu Herzrasen?

Im schlimmsten Fall zu Herzstillstand. Bei überdosiertem EPO sterben Sportler an Herztod. Mittlerweile kann man Blutzähigkeit messen. Das schlägt sich im Hämatokrit nieder, was den Anteil der Erythrozyten am Volumen des Blutes beschreibt. Bei einem Messwert ab 60 spricht man von Doping-Gefahr. Hat man in der Höhe über längere Distanzen nichts zu trinken, steigt der Hämatokrit-Wert zusätzlich an. Menschen, die in der Höhe sind, zeigen auf natürliche Weise, dass das sehr wohl auch ohne Doping möglich ist. Würde man in dem Fall noch EPO spritzen, wäre das wie gesagt sehr gefährlich.

Und Hormon-Doping?

Skyrunning ist ein Ausdauersport, kein Kraft- oder Wettkampfsport, wo Sekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden. Ob Testosteron oder ähnliches im reinen Ausdauersport nützt, schadet oder wirkungslos ist, wird auch unter Experten kontrovers diskutiert.

Der Berg hat Sie seit Ihrer Kindheit begleitet. Sie sind in der Nähe von Admont geboren und früh in die Berge gegangen, anfangs mit den Eltern, mit 14 Jahren dann schon eine Woche alleine. Was hat Sie auf den Berg getrieben? Was war diese Faszination für den Berg?

Damals war es die reine Neugierde herauszufinden, was hinter dem Berg ist. Natürlich kann man sich eine Karte anschauen. Es hat damals ja nichts gegeben, kein Internet, kein Google-Earth, nichts, gerade mal ein paar Karten. Da muss man selbst hingehen, z.B. über die Schladminger Tauern oder den Dachstein. Das habe ich damals als 14-Jähriger zum ersten Mal gemacht.

Wann haben Sie mit Ihrem Training begonnen?

Erst 21 Jahre später, unglaublich! Erst war ich in meiner Ausbildung als Elektrotechniker, dann 15 Jahre in meinem Beruf...

Im Management, das war irgendwann nicht mehr zufriedenstellend?

Ja, erst mit 35 Jahren habe ich gesagt: Stop! Sport habe ich immer gemacht. Ich bin mit einem hohen Level eingestiegen, was mir damals gar nicht bewusst war. Mit 38 Jahren habe ich mich der ersten sportmedizinischen Untersuchung unterzogen. Ich habe ja nie systematisch trainiert, eigentlich nach Gutdünken. Die Mediziner haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ausgerufen: So geht das nicht! So trainiert man nicht! Das waren reine Sportmediziner, die keine Erfahrung mit Höhe haben. Also, keine Erfahrung mit Hypoxie, wie man die Mangelversorgung des Gewebes mit Sauerstoff nennt. Martin Burtscher hingegen, mein Mediziner, sieht körperliche Leistung und Hypoxie viel umfassender. In der großen Höhe gibt es nun mal weniger Sauerstoff.

Waren Sie immer zu schnell unterwegs, noch bevor Sie als Skyrunner bezeichnet worden sind?

Ja, viel zu schnell. Ich muss atmen, schwitzen und so richtig gut war das für mich immer erst, wenn mein Herz so richtig gepocht hat! So war ich dann schon unten beim Training in dem Zustand, in dem man dann oben mit wenig Sauerstoff ist. Es war einfach Glück, dass ich das unbewusst trainiert habe, dadurch war meine anaerobe Ausdauerleistungsfähigkeit im Vergleich zur aeroben überproportional hoch.

Im September wurden Sie als erster Mensch auf den Triple Seven Summits in London mit der größten Auszeichnung geehrt, die man als Bergsteiger erhalten kann, und ins Guinness Buch der Rekorde eingetragen.

Ja, das war schön. Insgesamt sind das drei Einträge.

Sie haben die höchsten Berge bezwungen, auch die zweit- und dritthöchsten, die bislang nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Wie das? Vermessen Sie bei Ihren Touren auch die Berge neu?

Ja, das hat einfach sein müssen, weil die Literatur in ihrer Geschichte so viele Widersprüche und konträre Höhenangaben liefert. Das geht zurück auf Alexander von Humboldt, Begründer der modernen Geografie, der vor 200 Jahren nach Lateinamerika aufgebrochen ist und dort u.a. die Anden erforscht hat. Vermessungen hat er mit einem Dampfsiedebarometer vorgenommen. Das funktioniert in der Theorie sehr wohl, hängt aber immer von einem Tief- oder Hochdruckgebiet ab, weil je nachdem Wasser früher oder später friert: Bei einem Hoch ist der Berg dann infolgedessen niedriger, bei einem Tief eben höher, was also sehr ungenau ist.

Wie machen Sie das?

Mit einem DGPS (Differential Global Positioning System, Anm.), einem sehr genauen Messgerät, das ich mir von der Universität Graz, der Uni Santiago de Chile sowie von einem privaten Anbieter geliehen habe. Das Gerät ist heute das genaueste Werkzeug, um eine Höhe auf diesem Planeten zu bestimmen.

Das heißt, Sie haben nebenbei auch die Berge neu vermessen! „Die Vermessung der Welt“ war ein langjähriges Buchprojekt von Daniel Kehlmann, das später auch verfilmt wurde.

Kehlmann, Humboldt und Gauß, ja! Humboldt, auf dem Weg nach Spanien, hat südlich der Pyrenäen herausgefunden, dass es Richtung Madrid ansteigt und nicht, wie damals vermutet, abfällt. Der französische Mediziner und Botaniker Aimé Bonpland, sein Reisebegleiter, sagte zu Humboldt: Na, auch wenn es bergauf geht, wird es in Madrid genau so heiß bleiben wie eh und je! Genau das hat mich so fasziniert. Bevor ich diese Berge vermessen habe, war da ein wirkliches Durcheinander. Dann kommen natürlich die Kritiker und sagen: Und wen soll das interessieren? Ich dachte nur: Das hatten wir schon mal mit Humboldt!

Wie lange haben Sie Ihre Reisen mit Training und Finanzierung vorbereitet?

In einer groben Spanne von einem Monat bis hin zu einem halben Jahr. Ich finanziere die Reisen mit Vorträgen und Sponsoren, anfänglich hatte ich noch Eigenkapital. Ich war jahrelang im mittleren Management in Libyen tätig. Management bedeutete: Druck von oben und Druck von den Ölkunden vor Ort. Man gibt den Druck weiter an die Arbeiter, von wo dieser Druck natürlich zurückkommt. Irgendwann reicht das dann. Ich habe mich damals gefragt: Ist es das, was ich will, zwei Drittel des Jahres in Bengazi sitzen? Ich wollte das nicht mein Leben lang machen. In meinen Augen verschwendete Zeit.

Ist Präzision eine Voraussetzung, um auf einen Berg zu gehen? Ein Fehler kann dort fatal sein.

Ja, gewisse Berge sind sehr gefährlich.

Wie der Gipfel des K2, den Sie beim fünften Anlauf erreicht haben?

Ich wusste, ich muss da hinauf. Das ist einfach der gefährlichste Berg, das Können wird beim K2 nebensächlich. Es gibt dort so viele Gefahrenvon außen, wie z.B. Steinschlag und Eislawinen, die man nicht kalkulieren kann. Bei meinem ersten Versuch im Jahre 2008 sind elf Menschen beim Aufstieg gestorben. Im zweiten Jahr musste ich dann zwei Mal durch diese Stelle – ein Mal hinauf und dann wieder herunter – ich wollte einfach nicht sterben! Ich war in einer Art Zwangsgedanken.

Sind diese Gedanken dort ständige Begleiter?

Ja, schon. Ständig fliegt dort Eis oder Gestein den Berg runter. Berg ist nie gleich Berg. Dieser Berg zeigt einem seine Grenzen auf. Wenn ich mir diesen Berg, der etwas phantasielos nach seinem Vermessungspunkt benannt wurde, über meine fünfjährige Erfahrung hinweg anschaue, war das eine einzige Prüfung. Keiner kennt den Prüfer, wahrscheinlich war ich das selbst. Der Fels am K2 löst sich durch die Tageserwärmung. Insgeheim habe ich mich damals von dem super-gefährlichen Bergsteigen verabschiedet. Vielleicht ist das die Gauß’sche Verteilungskurve: Irgendwann erwischt es einen, man hofft nur, dass man es nicht selbst ist! 34 Prozent aller, die auf dem K2 waren, haben das einfach nicht überlebt. 2012 hat der Aufstieg zweieinhalb Tage gedauert. Es ging mir da nicht mehr um Geschwindigkeit, sondern ich wollte nur lebend wieder runterkommen. Natürlich habe ich mich gefragt: Warum höre ich nicht auf mit dem Projekt? Zwei Seelen waren da in meiner Brust: Ich wollte den K2 einfach abschließen, andererseits wusste ich um seine Gefahren und hätte das beenden können. Dann wäre Stangl eben nicht auf dem K2 gewesen! Alleine dieses Jahr sind 21 Bergsteiger nicht mehr aus dem Gebiet des Karakorums in Pakistan zurückgekehrt. Ich habe den K2 überlebt, mir ist nichts passiert.

Woher kommt also diese überzeugte Haltung, alleine und ohne Sauerstoff auf den Berg zu gehen?

Ich sage strikt Nein zu Sauerstoff aus der Flasche! Ich gehe doch nicht auf einen Berg, um dort oben wieder die Luft zu atmen, die ich von unten in der Flasche mitnehme. Wie ist das, 80 Prozent Stickstoff zu atmen? Ich will die freie Umwelt und freie Atmosphäre atmen, die dort oben herrschen. Das gehört einfach dazu. Das verlangsamt alles. Das kann Google Earth eben nicht geben.

Was ist also die freie Atmosphäre?

Rund 21 Prozent Sauerstoff in der Atmosphäre. Die Leistungsfähigkeit in der Höhe nimmt deutlich ab, man bewegt sich langsamer. Das Denken wird langsam, es kommt zu einer Art Trägheit, Entscheidungswege dauern extrem lange.

Dann ist das, was Sie hier unten trainieren, ja der totale Kontrast zu dem, was auf dem Berg passiert?

Ich habe eine hohe Geschwindigkeit im Vergleich mit anderen Bergsteigern. Wenn man jedoch die absolute Geschwindigkeit berechnet, bin ich aber extrem langsam.

Was bedeutet diese Geschwindigkeit verglichen mit der Logistik im heutigen Transportwesen?

Als Skyrunner sage ich: Je einfacher, desto besser. Das ist u.a. auch eine der Kernaussage in meinen Management-Vorträgen, die ich für Firmen, wie Siemens, IBM, Hitachi etc. halte.

Und warum gehen Sie immer alleine auf den Berg?

Weil einfach keiner mitgeht. Mittlerweile gibt es weltweit ca. 10 Personen, die mitgehen könnten. Die gehen aber auch alleine, weil sie jetzt die Schnellsten sind.

Wie gehen Sie mit Einsamkeit und der großen Stille in der Höhe um?

Eine wichtige Erfahrung war die Überquerung der Atacamawüste. Da habe ich 34 Tage alleine einen 120-Kilo schweren Wagen mit Lebensmittel und Wasser hinter mir hergezogen. Die ersten zehn Tage hat man Angst: Findet man Wasser? In der Hochwüste ist es sehr kalt.

Auf welche Temperaturunterschiede trifft man dort?

Zwischen 0 Grad und minus 15 Grad, man befindet sichdurchschnittlich auf 4.300 Metern. Ich war im Südwinter dort, der Winter war also vorbei und ich hatte die Hoffnung, Schneeflecken zu finden, um diese schmelzen zu können. Es ist unmöglich, Wasser für diese Dauer mitzunehmen. Die Idee war, alles zu tragen oder zu ziehen! Da war nichts mehr!

Was ist das Nichts?

In der Atacamawüste eine weite Ebene, Sand mit „Hügeln“ bis zu 6.893 Meter hoch (Ojos del Salado: zweithöchster Berg Südamerikas). Das sieht tagelang gleich aus, und man macht einen Lagerplatz, bevor die Sonne untergeht. Am nächsten Tag geht es dann wieder weiter. Irgendwann habe ich in weiter Ferne einen riesigen Stein gesehen, mich darauf zubewegt und dann dahinter meinen Lagerplatz aufgebaut. Das hat mich richtig gehend gefreut, denn es ist ziemlich windig dort! Ich habe mich wirklich gefragt: Drehe ich langsam durch, dass ich mich so freue, hinter einem Stein zelten zu können? Mit einer Süßwasserquelle, was für ein genialer Lagerplatz!

Sind die Lebensmittel nie knapp geworden?

Ich wollte 40 Tage lang in der Atacamawüste gehen, das sind rund 1.000 Kilometer. Dann war ich 900 Kilometer von Nord nach Süd unterwegs und die Lebensmittel wurden knapp. Ich habe gewusst, dass es sich letztlich nicht ausgehen wird und bin ausgequert Richtung Argentinien.

Macht so eine Erfahrung high?

Ja, schon. Da gibt es einfach keine störenden Einflüsse. Da ist nichts. Wenn ich dort eine Stunde wie am Spieß schreie, ändert das nichts.

Trance, eine hohe Form der Meditation?

Vielleicht sind wir alle schon in Trance, weil wir nie zur Ruhe kommen. Dort gibt es einfach nichts. Absolute Stille. Auch die Landschaft ändert sich nicht wirklich. Aber genau darum geht es.

Also eine innere Ruhe?

Ja, absolut, alles ist da und man will in dem Moment einfach nicht mehr! Alles, was ich brauche, ist da.

Und will man diese Erfahrung in der Höhe nicht auch teilen?

Das habe ich ehrlich gesagt nie probiert. Vielleicht sind Männer und Frauen da verschieden. Aber ich denke, dass man über längere Zeit alleine auf Jagd sein muss! Das sind einfach unsere Urinstinkte. Es ist sicher intensiver, wenn man alleine unterwegs ist. Die Emotionen sind einfach nur verstärkt. Wenn man übertrainiert, aufgepusht ist, man möchte, aber nicht mehr kann, weil man erschöpft ist, ist das einfach geil! Man kann nicht mehr schlafen, der Appetit geht zurück und die Leistung nimmt einfach ab. Das ist eine unglaubliche Erfahrung, aber auch sehr befreiend! Man steht auf, freut sich darüber, dass man weiter geht, obwohl man müde ist. Mehr will man nicht.

Ich denke da eher an mögliche Gefahren, an Tiere oder extreme Verhältnisse!

Da war mal ein Wüstenfuchs, erst war ich erschrocken. Ich habe im Zelt nur gespürt – da ist was! – ein Lebewesen, und habe vom Zelt rausgeschaut und zwei funkelnde Augen gesehen. Der Fuchs ist mir dann zwei Tage lang gefolgt. So weit von mir entfernt, dass ich ihn gerade nicht sehen konnte. Der Nachtjäger war schon mein Freund! Auch Zuris, die größten Laufvögel der Neuen Welt, habe ich mal aufgeschreckt. Ihre Rückzugsgebiete werden immer kleiner, da Rohstoffe, wie Gold und Kupfer, dort ja mehr und mehr abgebaut werden.

Im Dezember sind Sie wieder unterwegs nach Argentinien?

Ja, zum südlichen Teil der Atacamawüste. Geografisch ist es so, dass sich dort vor ca. 20 Mio. Jahren wahrscheinlich der höchste Berg befand – ein Supervulkan, der über 10.000 Meter in den Himmel ragte! Nach seiner Eruption ist nur der Kraterrand übrig geblieben, wovon sieben Punkte heute noch über 6000 Meter liegen, der höchste davon auf 6.795 Meter. Diesen Krater möchte ich abgehen und auch vermessen, die Wegstrecke hat ca. 140 Kilometer, dafür brauche ich Lebensmittel für zehn bis 14 Tage. Die höchsten Berge dort sind der Bonete Sur, Veladero, Reclus, Gemelos, Pissis, Upame, Peña Azul, allesamt unbekannte und einsame Sechstausender der Anden.

Wie gehen Sie mit Gefahren um? Wissen Sie, wann genug ist?

Das wage ich nicht zu behaupten, denn wenn ich eines Tages nicht zurückkommen sollte, dann heißt es: Er hat es doch nicht gewusst! Das kann man eben nicht beeinflussen. Nennt man das Kismet, Schicksal?

Das Gespräch führte Doris Lippitsch
Fotos: Christian Stangl