Baustelle Turm von Babel

Die Zeichnungen des britischen Künstlers Steven C. Harvey, der in Athen lebt und arbeitet, sind atemberaubend schön und beunruhigend zugleich. Technologien beschäftigen ihn seit seiner frühen Kindheit. Panajota Panotopoulou hat sich mit ihm über die Vehicles aus der Sammlung MUDAM Luxemburg unterhalten.

Wie erklären Sie ihre Faszination für Technologien?

Technik ist hochinteressant, sündhaft, nützlich und bedrohlich zugleich. Gut und böse. Klar ist ebenso, dass wir uns nicht einschränken können in dem, wie wir unsere Technologien entwickeln. Diese Tatsache ist bedrückend irrwitzig und der Grund für den absurden Charakter, der den Maschinen anhaftet. Auf den ersten Blick sind sie alle futuristisch, aber nach genauerer Betrachtung erweisen sie sich als absurd und dysfunktional, untauglich und unhaltbar. Wer auch immer der Konstrukteur sein mag, er hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie richtig funktionieren könnten.

Steven C. Harvey ©Steven C. Harvey

Wie entstehen ihre Zeichnungen am Beispiel der Serie Vehicles?

Ich versuche das, was aus den Zukunftsvisionen in meiner Kindheit – den 1960ern und 1970ern – geworden ist, zu reflektieren. Darum wird die Aircraft-Serie mit einer Propellermaschine angetrieben. Der Propeller verweist auf regressive Tendenzen in der Raumfahrttechnologie, die beispielsweise in „2001: A Space Odyssee“ zu sehen war, aber bis dato nicht realisiert wurde – heute gibt es weder Weltraumhotels noch fliegende Autos. Sie kam kurz auf, um dann wieder, wie Raumschiffe oder Mond-Raketen, zu verschwinden. inzwischen sind wir mit technischer Aggressivität dazu fähig, Mega-Fauna abzutragen, daher der hängende Elefant in den Zeichnungen.
     Die aktuelle Technik der Vehicles-Zeichnungen ist stark mit dieser fixen Idee aus meiner Kindheit von fiktionalen Maschinen verbunden, die ich als Teenager für die bildende Kunst beiseite geschoben hatte. Wichtig ist es mir, dem Betrachter eine neue Form, etwas Neues zu geben. Der Schlüssel zu Aircraft sind die erschreckenden Ausmaße der Propeller in Bezug auf die absurde, aber beklemmende Anordnung der Bodenluken zur Hinrichtung von Tieren. Ich verbinde Visionen aus meiner Kindheit mit der Poesie im Surrealismus sowie jener Absurdität, wie sie beispielsweise in Kafkas Romanen zu finden ist. Das hat auch damit zu tun, dass mich Sci-Fi-Blockbusters langweilen und zeitgenössische Kunst meist kalt lässt. Ich möchte dieses Niemandsland zwischen Mainstream-Illustration und Sensibilität in der Kunst auf der Suche nach Poesie erforschen.

Der Raum und das Licht in Griechenland sind unentbehrlich für mich geworden. Die verrückten und schwindelerregenden Gefüge urbaner Zersiedelung in Athen, die ausgehöhlten Steinbrüche und Klippen sowie Industriegelände um Elefsina und Volos waren für die Serie Vehicles grundlegend. Ich glaube nicht, dass diese Zeichnungen in London entstanden wären.

Wir erleben eine digitale Revolution. Ermöglicht Technik neue Werkzeuge in einer neuen Ära des Kapitalismus?

Anders als in der Science Fiction, wo Technik und Computer mehr Freizeit ermöglichen, ist für uns alle genau das Gegenteil eingetreten. Mit Laptops und PCs ist es nun möglich, dass ein Chef die Arbeit von seinen Mitarbeitern auch von Zuhause oder auf dem Weg zur Arbeit einfordert, ohne sie dafür zu bezahlen. Ich habe versucht, in Landezone den Druck darzustellen, dem heute ein durchschnittlicher Arbeitnehmer ausgesetzt ist. In der Zeichnung sind Menschen weder in der Arbeit noch auf dem Weg dorthin, aber in einer Art beklemmender Zwischenstation. Eine Voraussetzung für ihre Beschäftigung ist, keine Unterwäsche zu tragen, um sich rasch erleichtern zu können, ohne die geforderte Produktivität zu beeinträchtigen. In der Welt des Profits gibt es keine Herabwürdigung, die unvorstellbar wäre. Diese besonders demütigende Darstellung wurde von dem geradezu unmenschlichen Verbot für asiatische Call-Center-Mitarbeiter, während ihrer Tätigkeit auf die Toilette zu gehen, inspiriert.

Steven C. Harvey ©Steven C. Harvey

Das zeichnet eine dystopische Welt, das Gegenteil jeder utopischen Verheißung?

Die Zweiklassengesellschaft, die ich in meinen Zeichnungen aufzeige, ist nicht die einer dystopischen Situation, sondern die Welt, in der wir leben. Und so, wie ich sie immer gesehen habe. Da ist zum einen die Oberklasse, die ihren Komfort auf Kosten der Dritte-Welt-Sklaven begründet. Eine Bedingung für diesen Wohlstand in Europa war und ist, dass Menschen in Entwicklungsländern extreme Armut und Tod erleiden müssen. So wurden reiche Staaten in den letzten 500 Jahren aufgebaut, und dieses System der Ausbeutung haben wir heute noch. Wir alle wissen das, wollen es uns aber nicht eingestehen. Das hat mich schon immer beschäftigt. Als Künstler habe ich die Aufgabe, mir diese Schuld einzugestehen und klar zu verdeutlichen, dass beispielsweise das harmonische Familienleben, das ich als Kind erleben durfte, erst durch solch entsetzliche Voraussetzungen ermöglicht wird.
Das Fahrzeug ist ein visueller Hintergrund, um die Beziehung zwischen diesen beiden Welten zu illustrieren. Die Erste Welt der Oberklasse wird mit Passagieren dargestellt, die Zweite Welt der Unterklasse schuftet darunter, um das Ding in Gang zu bringen. Aber natürlich können wir heute zunehmend den Wunsch der Konzern-Elite beobachten, Dritte-Welt-Sklavenbedingungen auch in die Erste Welt zu bringen! Ich sehe das hier in Griechenland, das dabei ist, sich in ein Sammelbecken für Dritte-Welt-Sklaven zu verwandeln, es geschieht aber auch mit dem Verschrotten von Arbeiterrechten in Großbritannien etc.

Moderne Sklaven treiben also die riesigen Maschinen in diesen Welten an?

Der jahrzehntelange hohe Lebensstandard ist im kapitalistischen Westen nicht mehr haltbar! Die Party ist vorüber! In meinen Zeichnungen spreche ich von einer Art Gleichgewicht, die es damals zwischen Kapitalismus und sozialer Gerechtigkeit gab. Ab den 1980ern wurden die Märkte liberalisiert und die politische Macht nach und nach an die Konzerne übergeben. Heute sieht es so aus, dass unsere Länder bloße Futtertröge des großen Geschäfts sind. Wohlfahrt und Arbeitsrechte können langsam den Bach hinuntergehen. Und das war vor der Krise. Sie erlaubt der Konzern-Elite nun, den Coup de Grâce (Gnadenstoß, Anm.) durch Sparpolitik zu erteilen, die recht schnell Ultra-Nationalismus und Faschismus generiert. Schauen Sie sich heute Griechenland an! Ob Aktivistengruppen wie Avaaz im Kampf für soziale Gerechtigkeit, gegen Korruption und Klimawandel eine Chance haben, sei dahingestellt. Wir können eine wachsende Tendenz beobachten, uns zurück ins Mittelalter zu bewegen. Angriffe auf die Aufklärung nehmen zu und werden von der religiösen Rechten unterstützt.

Daher die biblischen Motive auf den Maschinen?

Ja, sie haben mehrere Bedeutungen. Die wichtigste besteht darin, sie als Sinnbild der Heuchelei darzustellen, die von den „Schöpfern der Vehicles“ getragen und gestützt wird. Es versetzt mich nahezu in Rage, dass unsere Oberhäupter einen Höllenlärm darum machen, Christen zu sein, während die Welt ausgeplündert wird. Nächstenliebe und Wohltätigkeit kommen dabei nicht vor. Mit wenigen Ausnahmen drehen sich ihre Reden um den Markt, der über allem steht, um eine Nation, die über allem steht, mit anderen Worten, das genaue Gegenteil der Lehren Christi.
     Die zweite Bedeutung der biblischen Metaphorik bezieht sich weniger auf das Kruzifix als auf die biblischen Überlieferungen der Sintflut und des Turmbaus von Babel. Der Mensch ist, wie schon der Babel-Mythos besagt, schlicht zu allem fähig.

Übersetzung aus dem Englischen: DORIS LIPPITSCH


Steven C. Harvey, geboren 1967 in Stafford, England, studierte bildende Kunst an der Wimbledon School of Art in London. Sein Werk wird heute weltweit in namhaften Galerien und Museen ausgestellt, u. a. Galerie Harris Lindsay, London (2012), im MUDAM in Luxemburg (2012), auf der 3. Kunstbiennale zeitgenössischer Kunst in Thessaloniki (2011). Harveys Arbeiten wurden für das umfassende Buch Vitamin D2 (Phaidon Press, Erscheinungsjahr 2013) über die herausragendsten Entwicklungen zeitgenössischer Zeichnungen ausgewählt. Harvey lebt und arbeitet in Athen.

 


 

Building Lot Tower of Babel

The drawings of British artist Steven C. Harvey are breathtaking, beautiful and disturbing at once. Technologies affect him since his early life. Panajota Panotopoulou talked to him about the series ‘vehicles’ from the collection of MUDAM Luxembourg.

How do you explain your fascination for technology?

It seems to me technology is exciting, sinful, beneficial and catastrophic all at the same time. It's simultaneously good and bad. It's clear too that we are incapable of restraint in how we develop our technologies. This last fact strikes me as depressingly insane and is the reason for the absurd character I invest all my machines with, and for their apocalyptic tone. The vehicles I portray are all futuristic at first sight, but close examination reveals them to be absurd and dysfunctional - nightmarishly unfit for purpose, unsustainable - whoever built them gave no thought as to how they could properly function.

Using the example Aircraft, how are your drawings generated?

What I'm trying to do with that is reflect the sad fate of the future dreams was given as a child of the 1960s and 1970s. And this is why the machine in Aircraft is powered by a propeller engine. The propeller indicates the regressive tendencies in our space-age vehicular technology, technology which was proposed in films such as '2001: A Space Odyssey', but which never materialised (orbiting space hotels, moon buses, flying cars) or else briefly blossomed then died (moon rockets, space shuttles). Meanwhile, the technical aggression we ARE capable of is currently stripping the Earth of mega-fauna, hence the hanged elephant and so on. The actual technique of executing a drawing like 'Aircraft' stems heavily from my childhood obsession with drawing science fiction machines, an obsession I put aside in my teens in preference for Fine Art. But crucially I want to invent form, to give the viewer something new to look at. Key to that in 'Aircraft' is the terrifying size of the propeller, and its relation to the absurd but nightmarish array of 'animal execution hatches'.
     Visually, I'm quite consciously trying to blend the SF of my childhood fancies with the poetics of a movement like Surrealism and even the absurdism of writers like Kafka. It's partly because I'm bored by today's SF blockbusters - and am left cold by much contemporary art - that I want to explore this no man's land between mainstream fantasy illustration and an art historical/contemporary art sensibility to see if a new poetry can be found there.
     "Space and light of Greece has become indispensable to me. The textures of modern Athens, and some of the more crazy and vertiginous interplays between urban sprawl and the cavernous quarries and cliffs of the mountains and the industrial areas around Elefsina and Volos have all had a subtle impact on the Vehicles imagery. I don't think those drawings would have come out the way they did if they'd been done in London".

We experience a digital revolution. Does technology generate new tools in a new era of capitalism?

Unlike what was proposed in science fiction – the idea that technology and computers would bring more leisure time, the opposite has happened, with laptops and PCs enabling the Boss to get work out of his employees at home and while they are journeying to work, for no extra pay. I tried to reflect this in the drawing Landing Zone, the pressures that the average employee increasingly comes under. In that drawing the people are neither at work exactly, nor exactly on their way to work, but are permanently stranded in some bizarre nightmarish mix of the two. Also, a condition of their employment is that their underwear is permanently pulled down so that they can relieve themselves without affecting the productivity demanded by their employer. No degradation is off-limits in this world where profit is king. This particular humiliation was inspired by some of the utterly inhumane and humiliating toilet-visiting restrictions placed on workers in Asian call-centres ...

...Traces of a dystopian world, just the opposite of any utopian promise?

The two classes of people I show belong not to a future dystopian situation but to the world as I see it today. And indeed the way I've always seen it: a First World over-class living in comfort on the back of Third World slaves. A condition of the prosperity we have in Europe is that people in the developing world must suffer extreme poverty and death. It was a condition required to build Europe over the last 500 years and it is still required. We all know this, but it's simply too horrifying to face. But it's always haunted me and as an artist I felt a duty to admit that guilt and show it, to show that the harmonious family life I experienced as a child, for instance, was dependent on such a horrific pre-condition.
     The vehicle makes an effective visual setting to display this relationship between the two 'Worlds' - the First World over-classes can be shown riding as passengers, the Third World under-class can be toiling below, powering the thing. But of course, increasingly, we now see the desire of the corporate elite to bring Third World slave conditions into the First World! I see this here in Greece, which is being turned into a Third World slave pool, but it's also happening in the UK, with the scrapping of workers' rights and so on.

Modern slaves are the driving power of the gigantic machines in those worlds?

Western capitalism can no longer provide the standard of living it did in the first 40 years after World War II. The party’s over! I’m talking about the balance between capitalism and social justice that existed then, and which doesn’t now. In de-regulating the markets, as we began to do in the 1980s, in transferring political power from the state to corporations, our countries became mere troughs to feed the solipsistic oligarchies of big business.
Everything else – welfare, hospitals, employment rights – could gradually go to hell. And that was before the crisis. The crisis is allowing the corporate elite to deliver the ‘coup de grâce’ - austerity. And austerity breeds fascism and ultra-nationalism – just look at Greece now.  If advocacy groups like Avaaz are successful in their activism on issues like social justice, corruption and climate change – That’s about it.
     Nowadays we observe a growing tendency towards mediaevalism in the world, the increasing and sustained attack by the religious right on an enlightenment that has stood for 300 years.

...Therefore the biblical motifs on the machines?

I put those emblems there for a number of reasons, the main one being that they function as badges of hypocrisy worn by the ‘vehicle-builders’. It drives me almost to tears of fury that our political and business leaders make such a damn noise about being Christians while pillaging the world in the interests of their own nations or their own corporate tyrannies. The last thing we ever hear from our so-called Christian presidents and prime ministers is anything about Christ's main themes of love and charity. With few exceptions, all we ever hear from our so-called Christian leaders is that the market is king, that the nation is king in other words, the exact opposite of Christ’s teaching.
     The second function of the religious imagery in my work – and this is not so much the crosses, but the references to biblical accounts of The Flood and The Tower of Babel – is to suggest that Man is uncannily, creepily, eerily now able to bring these things that were cautionary myths into reality!

Steven C. Harvey, born in 1967 in Stafford, England, studied Fine Art at Wimbledon School of Art, London, from 1986 to 1989. The artist’s work is shown in renowned galleries and art museums all over the world like Harris Lindsay gallery, London (2012), in MUDAM, Luxembourg (2012), the 3rd Thessaloniki Biennale of Contemporary Art (2011). Harvey’s work has been selected for inclusion in the upcoming Vitamin D2 to be published by Phaidon Press in 2013, an important new international survey of significant developments in recent contemporary drawing.