Oscar Niemeyer - Visionär mit Bodenhaftung

Oscar Niemeyer ist tot. Am 6. Dezember verstarb der große brasilianische Architekt im Alter von 104 Jahren in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro. Mit seinem Tod geht eine Ära zu Ende.

Er verlieh der internationalen Moderne in Brasilien ein unverwechselbares, eigenständiges Antlitz. Schwungvolle Kurven, wagemutige Dachkonstruktionen und freitragende, monumentale Rampen charakterisieren seine Architektur – und machen sie unverwechselbar. Stahlbeton war sein bevorzugtes Ausdrucksmittel und dieses wusste er in sinnlicher Weise einzusetzen. In kühne Konstruktionen gegossen, nahm er dem monolithischen Baustoff seine Schwere und verlieh den damit errichteten Gebäuden eine nie dagewesene Leichtigkeit.
     Niemeyers gebaute Betonskulpturen sind weder rein funktional noch besonders praktisch. Sie zeichnen sich auch nicht durch übertriebene Gebrauchstauglichkeit oder Wirtschaftlichkeit aus. Das war aber auch nicht sein Anspruch, denn für ihn sind Bau(kunst)werke Ästhetik pur, reine Poesie aus Beton, Stahl und Glas. „Form follows function“ – das Gestaltungscredo der Moderne – war nicht sein Ding. Vielmehr folgte er eigenen, leicht abgeänderten Gestaltungsansichten: „form follows beauty“ oder „form follows feminin“.
     „Der rechte Winkel zieht mich nicht an und auch nicht die gerade, harte inflexible Linie, die der Mensch geschaffen hat. Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Körper der geliebten Frau.“
     Architektur war für ihn Lebenselixier: „Ich zeichne, bis ich umfalle“, hat er in Interviews immer wieder gerne betont. Und er hat sein Wort gehalten.

niemeyer ©Oscar Niemeyer
     Am 15. Dezember wäre Oscar Niemeyer 105 Jahre alt geworden. Bis zuletzt war sein Schaffensdrang ungebrochen und so verbrachte er, wie schon als ganz junger Architekt, beinahe jeden Tag in seinem Büro an der Copacabana.
     Er hinterlässt seine zweite Frau, fünf Enkelkinder, 13 Urenkel und fünf Ururenkel sowie rund 20 Gebäude auf der ganzen Welt, die sich aktuell noch in der Realisierungsphase befinden.
     Seine Architektur ist nach wie vor gefragt. Ikonen der Moderne, wie das Ministerium für Bildung und Gesundheit (heute Kulturpalast) in Rio de Janeiro, die Kathedrale von Brasilia oder das Hauptgebäude der Vereinten Nationen (UN-Headquarter) in New York, entstammen Niemeyers Feder. Und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, denn mit rund 600 realisierten Bauwerken zählt er zu den schöpferischsten und produktivsten Zeitgenossen seiner Zunft.
     Als Sohn deutschstämmiger Eltern studierte Niemeyer an der Escola Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro. Die berufliche Laufbahn begann er bei Lúcio Costa, einem brasilianischen Architekten und Stadtplaner, bevor er als Assistent von Le Corbusier mit diesem seinen ersten Großbau, das Gesundheits- und Erziehungsministerium in Rio de Janeiro, realisierte. Als 1964 die Militärdiktatur die Macht übernahm, musste er als Kommunist das Land verlassen und fand schließlich Aufträge in Argentinien und Übersee.

DIE SCHöNSTE HAUPTSTADT DER WELT

Die Person Oskar Niemeyer ist untrennbar verbunden mit der Modernisierung Brasiliens und der Errichtung von Brasilia, dessen Bauten als sein Hauptwerk gelten. Es sollte die schönste Hauptstadt der Welt werden – mitten im Nirgendwo, im Herzen des riesigen Landes. Ein politisches Experiment und architektonisches Abenteuer. Weitab von jedweder Zivilisation, rund 1.000 Kilometer von der ehemaligen Hauptstadt Rio de Janeiro entfernt, entwickelte er als Architekt gemeinsam mit Lúcio Costa als ausführender Stadtplaner die Idealstadt der Moderne auf dem Reißbrett. Alle öffentlichen Gebäude stammen aus seiner Hand: der Regierungssitz, das Parlament, der Oberste Gerichtshof, die Ministerien, die Kirchen sowie ein Großteil der Wohnhäuser, die so genannten Superquadras für rund eine halbe Million Einwohner.
     Es war der brasilianische Staatspräsident Juscelino Kubitschek selbst, der Niemeyer Ende der 1950er Jahre als Hauptverantwortlichen für die Realisierung Brasilias sowie als Obersten Juror bei der Vergabe von Aufträgen einsetzte. Niemeyer entwarf, plante, baute, organisierte fast rund um die Uhr, sieben Tage die Woche – über vier Jahre lang. Von zehntausenden Arbeitern innerhalb nur einer Präsidentschafts-Amtsperiode aus dem Boden gestampft, fand im April 1960 die offizielle Einweihung der neuen Hauptstadt statt.
     Mit Brasilia hat sich Niemeyer – gewollt oder ungewollt – ein Denkmal gesetzt, auch wenn er selbst Jahre später das Experiment Brasilia als gescheitert betrachtete. Als überzeugter Kommunist wollte er den Idealtypus einer Stadt errichten, in der Minister und Arbeiter Tür an Tür leben – eine Vorstellung, die nie Realität werden sollte. „Im Moment haben nur Reiche etwas davon, der Rest in den Favelas hat verloren“, berichtete er im Rahmen eines Interviews anlässlich seines hundertsten Geburtstages. Als Monument für die Architektur der Moderne wurde Brasilia – die Retortenstadt, in deren Ballungsraum heute mehr als vier Millionen Menschen leben – im Jahr 1987 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen. Damit sind viele seiner Bauwerke als Ensemble einer einzigartigen Bau- und Gestaltungsidee unter Schutz gestellt. Eine Ehrung auch für Niemeyer, einen mit unzähligen Preisen und Auszeichnungen gewürdigten und geehrten Mann (Internationaler Lenin-Friedenspreis, Goldener Löwe, RIBA-Goldmedaille, Pritzker-Preis u.v.a.m.), der sich nach eigenen Angaben wenig darum scherte.

Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho 15. Dezember 1907– 5. Dezember 2012

Text: TOM CERVINKA