Gespräche Teil 1

Wien wo und wohin?

Die Zukunft der Stadt

Die Idee zu diesen Gesprächen ist vor einem Jahr mit Wolf D. Prix im MQ entstanden. Wir haben uns lebhaft über Wien unterhalten, über verschiedene Ungereimtheiten diskutiert, alteriert, fast exaltiert, uns dabei nicht nur amüsiert, sondern auch ernsthaft überlegt: Starten wir doch eine intensive Diskussionsrunde mit Architekten und Architektinnen, Planern, Politikern und Investoren! Das Thema brennt: Wo steht Wien und wo kann Wien hingehen?

JAKOB DUNKL, QUERKRAFT   Wien wo und wohin? Übertrieben formuliert: Wir leiden auf sehr hohem Niveau. Aber sagt man über Wien: „Fahren wir einmal nach Wien, um den neuen Bahnhof anzuschauen?“ So wie man aktuell zum Beispiel den Wohnbau in Kopenhagen studieren kann? Mittlerweile sind eine Reihe namhafter (heimischer) Architekten wie COOP HIMMELB(L)AU mit Projekten in Wien vertreten. Spannend wäre die Frage: „Sind die absoluten Meisterwerke dieser Architekten auch in Wien entstanden?“ Geht man einen Kompromiss ein, bevor man sich hier die Finger verbrennt? Man zieht eher zurück.

RÜDIGER LAINER, LAINER + PARTNER   Wenn man in die Geschichte schaut, alleine am Beispiel der Karlsplatzdiskussion, und die Akten und Studien liest … nur keine großen Wellen!

DORIS LIPPITSCH, QUER   Die Wiener wollen überhaupt keine Wellen!

LAINER   Keine Brandung und keine Gischt! Nur kein Moby Dick! Das ist so eine Grundhaltung, die sich in der Stadtplanung mit so einer gewissen Vorsicht weiter entwickelt hat.

ROMAN DELUGAN, DELUGAN MEISSL  

Wir leben auf einer Insel der Privilegierten im Vergleich zu Ländern wie China, Korea, Südamerika etc. Wien ist nicht Wien – Wien ist Europa – es gilt, adäquate Konzepte dafür zu entwickeln.

QUER   Woher kommt diese Angst?

HERBERT BINDER, EHEMALIGER LEITER DER MA 21B   Man muss es im geschichtlichen Kontext sehen. Wien war eine Verwaltungshaupt­stadt eines großen Reiches, wir waren also stark „verbeamtet“ … In der „Welthauptstadt“ der ehemaligen Monarchie wurden die großen Bauten, insbesondere öffentliche, fast ausufernd, manchmal protzend, errichtet. Man hat dann aufgrund der Tatsache, dass Wien schrumpfte, weniger aufstellen müssen … hier und da etwas Kleines. Das neue AHK und die Uno-City waren Ausnahmen. Darüber hinaus der kommunale Wohnbau, der Wiederaufbau, aber auch in Wien hat die „große Maschine des Plattenwohnbaus“ vor 40, 50 Jahren das Stadtbild, vor allem am Stadtrand, stark mitgeprägt.
    All diese historischen Zwänge – ich will jetzt nicht Lasten sagen – waren nicht unwesentlich für diese Millionenstadt, die zehn Jahre lang etwas isoliert, inselartig, in der sowjetischen Zone lag, ähnlich wie Berlin. Darum ist man hier manchmal vielleicht etwas zögerlicher als anderswo. Es sitzt tief in der Wiener Mentalität. Das ist aber auch nicht schlecht so.

Als ich in den 1960ern nach Wien gekommen bin, war da schon eher ‚tote Hose‘.

Nach und nach hat sich aber einiges geöffnet und entwickelt, denn aus dem Stand kann man nicht gleich 100 fahren!

WOLF D. PRIX, COOP HIMMELB(L)AU   Heißt das, dass die Verwaltung des großen Kaiserreichs die Mentalität der entscheidenden Beamten dieser Stadt noch immer prägt?

BINDER   Die etwas vorsichtige Haltung in der Wiener Stadtverwaltung bringt auch große Vorteile. Wir haben beispielsweise die „Elektrische“, wie man früher zur Straßenbahn sagte, also ihr Netz – im Gegensatz zu anderen Städten – erhalten, zum Teil auch ausgebaut, was für die Menschen und den Verkehr heute nicht unwesentlich ist …

DUNKL   In Wien funktioniert ja alles recht gut, glaube ich unbestritten, da sind wir Weltmeister! Aber was fehlt, ist der Mut zu etwas wirklich Gewagtem, wenn Wien das anpeilen und sagen würde: „Wir wollen neben der hohen Zufriedenheit wirklich was riskieren und etwas schaffen, das dann in 100 Jahren …“ Da tun wir uns ein bisserl schwer. Da kommt nicht dieses ganz Außergewöhnliche in der Stadt zustande …

PRIX   Ja, was ist das Selbstverständnis der Wiener? Die Gemütlichkeit?

DUNKL   Wenn man Wohnbau hernimmt: Wir bauen …

PRIX   Wohnbau ist das Rückgrat der Stadt gewesen, das hast du ja gesagt. Sonst hat es ja nichts gegeben in Wien …

DUNKL   Die Donauinsel ist spektakulär, rückblickend. Wo würde es das heute geben, dass man so eine unglaublich hohe Investition macht, ohne zu sagen: „Das muss zurückverdient werden!“, sondern einfach sagte: „Wir machen das jetzt!“

PRIX   In Barcelona!

DUNKL   In Barcelona vielleicht, ja.

Wien wo und wohin? ©x

BINDER   Aber dort sind viele Baulandnutzungen mitverkauft worden, entlang des neuen Strandes. Auf der Donauinsel steht nichts, nur die dringend erneuerungsbedürftige, jetzt äußerst hässliche „Copa-Cagrana“, und dann findet alljährlich das große Inselfest statt.

LAINER   Die Richtung Donau war in Wien immer Thema, aber es hat nie jemand gewagt, das radikal und konsequent anzugehen …

BINDER   Wien an die Donau, aber keine Baulandnutzungen auf der Donauinsel! …  

LAINER   Wenn du meinst, dass Wohnen an die Donau gehört, dann richtig an die Donau gesetzt. Das wäre etwas, wo meiner Meinung nach ein radikaler Ansatz notwendig wäre und nicht immer abwiegelnd: „Nein, das Überbauen oder Reduzieren der Eisenbahn geht nicht, der Hafen muss viel größer werden … !“ Daher gibt es noch mehr Verkehr auf Bahn und Straße! Dieser triste Raum der Lände wird immer perpetuiert. Ich glaube es, wenn du sagst, die Donau wäre ein Zukunftsgebiet, in dem man krasser agieren könnte. Aber wenn man als Planer dann sagt, dass man da was hinbauen sollte, und du zeigst das dann jemandem von der Stadt, egal, wer Stadtrat ist: „Nein, das können wir nicht machen! Da vernichten wir ein bisschen Grün!“
    Da gibt es gigantische Grünflächen, die man nutzen könnte. Das Erstaunliche ist, dass strukturelle Veränderungen, die ein gewisses Territorium radikal verändern würden, als abschreckend wahrgenommen werden. Gerade, wenn du sagst, die Donau, Donauinsel, also dort, ja. Was hervor­ragend funktioniert, sind Infrastrukturmaßnahmen. Auch historische, wie die Hochquellwasserleitung bis zur Donauinsel. Aber wirklich eine Veränderung, die in dem Sinn auch Bauten beinhalten würde, mit Zwischenräumen, die Veränderung mit sich bringen würden, hat Erschreckendes an sich.

Eine defensive Grundhaltung ist unverkennbar. Ein wichtiger Punkt ist: Dieses mentale Freispielen, Planung als mind expander, wird verhindert, alles ist immer sehr stark reguliert.

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Wien ist im Verhältnis zu anderen Städten hervor­ragend geplant, aber eine höchst regulierte Stadt. Überall Baufluchtlinien, Höhenangaben für Gebäude, Gründerzeitstrukturen werden immer weitergeführt. Jetzt wird es durchbrochen, jetzt kann man Hochhäuser bauen – ob sinnvoll oder nicht.
    In vielen Städten gibt es vielfältige Ansätze. Wir sind im Unverbindlichen ein bisserl utopisch, im Faktischen jedoch nicht. Dieses Spiel, neue Entwicklungen zu stimulieren und in anderen Bereichen hintan zu stellen, das fehlt hier. Der Mut fehlt, Risiken einzugehen. Wir verwechseln, dass die Qualität einer Stadt im vielfältigen Gebrauch liegt und nicht in unverbindlicher Form. Es fehlt das urbane Gefühl.

PRIX   Was ist das, warum wir keine spektakulären Zeichen in Wien wollen?

BINDER   Es liegt nicht immer am „Nicht-Wollen“, sondern auch am Können. Das bedarf eines Investors, groß und vielleicht international aufgestellt, ein Big Player, der sagt: „Ich mach’ das!“ Richtig große Industrie hatten wir in Wien nie. Größere private Wiener Unternehmen zeigen in der Regel weniger baulich sichtbares Darstellungsbedürfnis. Unternehmen, die der Wiener Stadtverwaltung „nahe sind“, stehen unter verstärkter öffentlicher Beobachtung und haben somit weniger Spiel- bzw. Gestaltungsraum …


PRIX   Ich frage mich wirklich: Sind wir, die Architekten, nicht auch schuld, dass die Innovation hinten nachkommt? Kann es sein, dass wir ein bisschen vorauseilenden Gehorsam haben, verständlicherweise, oder verinnerlichte Zwänge in uns finden, die das gar nicht mehr andenken lassen, was wirklich wichtig ist? Oder die andere Frage war: Warum entsteht jetzt vor meiner Haustür Klein-Bukarest (ehemaliges Nordbahnhofgelände, Anm.) und nicht eine dem Masterplan entsprechende neue Stadt? Wieso passiert das? Da hat es einen Masterplan gegeben von …

LAINER   Podrecca, Tesar.

PRIX   Podrecca und Tesar. Er hat eine einzige Idee gehabt: Die Blockrandbebauung, die hier sehr willkommen war bei dem ehemaligen Leiter der MA 21A. Er hat eine schräge Diagonale durchgebrochen und dadurch verschiedene Möglichkeiten von neuen Räumen angezeigt. Das ist total weg. Dort entsteht angeblich zum Teil hochgradiger sozialer Wohnbau. Ich sehe nicht ein, wieso der hochgradig sein kann. Dort gibt es überhaupt keinen öffentlichen Raum, keinerlei Möglichkeiten einer Entwicklung, also kein Potenzial. Diese Rufe: „Die Erdgeschoßzonen werden wir beleben!“ Das wird nicht funktionieren, weil die dort im devastierten öffentlichen Raum stehen! Wieso passiert so was?

DUNKL   Dazu fallen mir zwei internationale Meinungen ein. Winy Maas von MVRDV sagte einmal in einem Vortrag, dass er in seiner ganzen Karriere nie so viele gebundene Hände erlebt habe wie bei dem Versuch, in Wien einen Wohnbau zu machen. Auf keinem anderen Standort in der ganzen Welt. Zu den Franzosen Lacatan & Vassal haben wir gesagt: „Kommt’s einmal nach Wien, machen wir gemeinsam einen radikalen Wohnbau!“ Und die haben gesagt: „Geht da überhaupt was mit euren Bauträgern?“ Die haben nicht einmal Interesse gehabt! „Wenn, dann müssen die Bauträger mutig sein, dann kommen wir, dann machen wir gerne was!“ Das ist z.B. so eine Inzucht beim Bauträgerverfahren, da gehört längst einmal wieder etwas reformiert. So was von Fahrwasser, eine Inzucht, alle sitzen in der Jury, und dann wunderst dich immer, dass man schon vorher weiß, wer gewinnt!

QUER   Und haben die auch über die Erfahrungen in Deutschland oder Frankreich erzählt? Ist es dort besser? Und wohin geht das? Nachdem ich lange in Frankreich gelebt und in Paris studiert habe, war ich einmal mit einer Pariser Freundin in Wien. Sie hat kein Wort Deutsch gesprochen und überall die Schilder gesehen und mich gefragt: „Willst du in dieser Stadt leben? Überall stehen hier nur Verbote!“

DUNKL   Die Verbotsschilder sind eine schöne Metapher dafür. Uns Architekten will man jetzt dazu bringen, smartere, leistbare Wohnungen zu machen, auf der anderen Seite fährt die Maschinerie des Drucks auf Bauvorschriften: Wo könnte vielleicht noch irgend ein Lückerl sein, wo vielleicht eine Brandschutzvorschrift etc. noch einmal verschärft werden? Das ist meines Erachtens ein Unsinn, weil nie eine gesamtgesellschaftliche Diskussion geführt wird. Da wird immer sofort eingewendet: Da könnte noch irgendwo ein Fluchtweg zu kurz sein, ein Brand­überschlag auch stattfinden, der Gang ist vielleicht noch irgendwo zu schmal oder sonst irgendwas. Da wird nicht nachgedacht, ob überhaupt irgendwas passiert! Das ist absurd!

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BINDER  …  Überhaupt finde ich den Zwang zu den vielen konventionellen Grundrissen im geförderten Wiener Wohnbau für die künftigen wechselnden Anforderungen zu stringent, wenig intelli­gent. Hier wäre wirklich mehr Mut am Platz, im Besonderen auch bei den Verkaufsabteilungen der Bauträger!

PRIX   Das ist eine Katastrophe!

LAINER   Das ist das Wechselproblem einer problematischen Strategie, Wohnungen leistbar zu machen. Die Leute haben weniger Geld und die Wohnungen werden kleiner! Dass sie damit als Folge teurer werden, dann wieder nicht leistbar und noch mehr schrumpfen, das wird nicht gesehen! Hier wären gänzlich neue Ansätze zu entwickeln. Auch die Baukosten werden durch immer neue Regelungen enorm erhöht. Wir haben das Problem – und das ist Wien –, dass es keine Tradition des Städtebaus gibt, der über die Gründerzeit hinausgeht. Wir leben immer noch von den Otto-Wagner-Plänen mit den Rastern, die eine unheimlich effiziente Struktur sind. Die Gründerzeit bietet unabhängig von ihrer Form eine Neutralität der Nutzung, die alles Mögliche unterbringt, sowohl städtebaulich als auch in der Gebäudestruktur. Diese Neutralität für vielfältige Nutzungen ist auch etwas langfristig Effizientes. Drum hat Wien es auch geschafft, sehr viel zu sanieren, weil diese Häuser sozusagen „viel können“. Du kannst in Paris viel weniger sanieren – diese vielen kleinen, verschachtelten Strukturen kannst du einfach nicht so multifunktionell nutzen! Daher hängt Wien an der Gründerzeit mit dem Raster und hat eines übersehen, dass damit die Form mit Gebrauch verwechselt wurde. D.h., es muss nicht alles durch regelmäßige Raster überformt sein, es ist möglich, diese Neutralität für vielfältige und widersprüchliche Nutzungen auch mit völlig anderen komplexen Systemen zu schaffen.

Dieses Wissen: Was ist das Spiel zwischen Komplexität und Einfachheit? Das ist das Spiel zwischen Vielfalt und Einheitlichkeit. Diese städtebauliche Diskussion gibt es in Wien nicht.

Wien wo und wohin? ©x

Das führt dazu, dass man einen Raster plant, der am Nordbahnhof irgendwie aufgelockert werden soll von einem großen Bogen, einer Diagonale: Das wird als Konzept einmal vorgestellt und dann wird dieses einzige bereichernde, irritierende Element doch nicht gebaut. An der Lasallestraße sieht man gut, dass diese Blöcke ziemliche Monster sind und keinen Boulevard bilden. Dann wird im nächsten Schritt versucht, einen Ausweg zu finden, d.h., es wird der Block aufgelöst, es werden irgendwelche bezugslosen Brocken auf die Wiese gesetzt und damit jegliche Raumbildung zerstört, es gibt nicht einmal mehr das Ordnungssystem des Blockrasters. Diese Auflösung des Raums vernichtet sozusagen jegliches urbane Gefühl und verhindert auch jede Vielfalt.
    Stadtplanung ist damit nicht der Versuch, die Gleichzeitigkeit der Gegensätze zu stimulieren, sondern ein mechanistischer Wechsel städtebau­licher Modelle: Zuerst gibt es den Block, dann die Zeilen, dann die Teile. Der Nordbahnhof ist ein gutes Beispiel fehlenden Muts, wenn ich eine ganz komplexe städtische Struktur baue – die Widersprüche in Wien! –, es muss städtebaulich alles immer einem simplifizierten Ordnungssystem unterliegen. Das ist schade! Jetzt gab es den neuen Wettbewerb, den Bernd Vlay gewonnen hat. Der hat mit seiner Hochhauskrone eine spektakuläre, spannende Lösung entwickelt … die jetzt wieder zu den vorherigen Phasen antithetisch ist. Wir pendeln immer zwischen These, Antithese. Antithese ist das Maximum, wir schaffen jetzt aber keine Synthese.

PRIX   Wissen wir eigentlich, was Stadt ist? Weiß Wien, was Stadt ist?