Minus g

Warum es sich doch lohnt, sich in der Architektur an der Weltraumfahrt zu orientieren.

1960 führte die NASA am Langley Research Center (LaRC) in Hampton, Virginia, ein damals ungewöhnliches Experiment durch. Vier Männer wurden vier Monate lang in einer simulierten Raumkapsel, dem „Living Pod“, hermetisch eingeschlossen und von Wissenschaftlern beobachtet. Die Aufgabe war es, ohne zusätzliche Hilfe zu über-leben und jeglichen organischen Abfall zu recyclen, ein Testfall für das Überleben im Weltall. Das Experiment gelang nur teilweise, Exkremente ließen sich schlecht verwerten, Speisereste verstopften Luftfilter und die vier mussten die Kapsel früher verlassen als geplant. Die Versuche im „Living Pod“ waren von militärischen und ökonomischen Interessen gelenkt. Sie dienten der bemannten Raumfahrt und der Erforschung unwirtlicher Kontinente, sie simulierten Ernstfälle wie ökonomische Einbußen durch den Kalten Krieg oder ein Überleben im Fall eines atomaren Angriffs. Es schien also durchaus plausibel, Errungenschaften der Raumfahrt auch direkt in die Bauindustrie und häusliche Kontexte zu übertragen. In den 1970ern propagierten Architekturmagazine neue Häuser als lebenserhaltende (und nicht verbrauchende) Systeme, und die Technologien dazu schienen endlos.

Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Forderungen an eine selbsterhaltende Architektur geändert haben und wie langsam diesbezüglich die Entwicklungen erfolgten. Von autarken Systemen im Bauen ist man heute weit entfernt, intelligente Materialien sind nur in Vorzeigeprojekten einsetzbar. Wohnbauten werden zumeist mit Ziegeln errichtet, dick verpackt und sind Lichtjahre von jeder Schwerelosigkeit entfernt. Die Euphorie der Raumkapselhäuser ist vorbei und in der Bautechnologie ist pragmatischer Stillstand eingetreten.
    Bauexperimente mit Raumfahrttechnologien waren immer dann interessant, wenn Architekturen nicht vordergründig Formen imitierten, sondern forschend argumentierten, also eine Frage-Antwort-Architektur betrieben. So etwa das Dymaxion House (dynamic maximum tension), das Buckminster Fuller, der Vater aller Raumfahrtarchitekturen, zwischen 1927 und 1945 als autarkes System entwickelte, in einer Zeit also, als ökologischer Kollaps und Umweltkatastrophe noch weit entfernt waren. In Aluminium gebaut, wog es nur knapp über zwei Tonnen, konnte mit einem Luftschiff transportiert und zum Preis eines Cadillac erworben werden. Vakuumgedämmte Außenwände reduzierten die Heizung auf einen hauseigenen Generator, die Lüftung erfolgte von selbst, und eine Spraydusche reduzierte in der vorgefertigten Badzelle den Wasserverbrauch. Die Beschreibung der Konstruktion liest sich selbst nach fast einem Jahrhundert noch wie eine Fiktion: „Nicht Träger, sondern gespannte Klaviersaiten spannen Felder auf, gefüllt mit pneumatischen Duraluminiumelementen.“ Ein Prototyp wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut, in Produktion ging er allerdings nie.

Minus g ©Bilder aus Bucky Works. Buckminster Fuller’s Ideas for Today von J. Baldwin. Verlag John Wiley & Sons, NY 1996

Das Selbsterhaltungsexperiment der NASA scheiterte, das Dymaxion House endete im Vorgarten eines gewieften Geschäftsmannes. Weltraumtechnologien eignen sich heute kaum für serielles Bauen und leistbares Wohnen. Andererseits lohnt es sich dennoch, wiederum auf die Experimente mit Autarkie, Autonomie und Leben unter extremen Bedingungen zu blicken. Wie Buckminster Fuller ja auch meinte: „Es ist nicht notwendig, ins Weltall zu fliegen, die Erde selbst ist das Raumschiff und die Menschheit ist die Crew.“ Die Bedingungen dieses „Raumschiffs Erde“ werden nun auch zunehmend unwirtlicher. Das Klima ist instabil, ökonomische Krisen werden durch ökologische Kollapse übertroffen und Dürre, Überschwemmungen, Erdbeben, Kälte, Hitze, Gletscherschmelzen und Verwüstungen sind schon zum Normalfall geworden. Lebensbedingungen ändern sich heute teils radikal. Ein Überleben im Extrem könnte also gefragt und Versuchsanordnungen, einer Raumkapsel gleich, nützlich werden.
    Das Projekt „Minus g“ von Architekturstudierenden der Kunstuniversität Linz widmet sich aktuell der Recherche und Forschung nach solchen Überlebensmöglichkeiten. Nicht ästhetische Modelle sind das Thema, Antworten ergeben sich durch territoriale und klimatische Gegebenheiten sowie akute Probleme wie Frischwasser- und Energiegewinnung, Verwertung von Abfällen und Selbstversorgung. Antarktis, Grönland, Tundra, Pazifik, Erbebenzonen, die Müllhalden Kairos, ein bolivianischer Salzsee, die Sahara und Canyons bilden den Rahmen für apokalyptische Wohnumgebungen. Wie kann man das Desaster, von dem alle meinen, es würde schon nicht so schlimm werden, überleben? „Minus g“ ist der Test dafür, was passiert, wenn sich alles so entwickelt, wie es die Wissenschaft ohnehin schon lange voraussagt. Erfindungsreichtum, Forschen und experimentelles Austesten bis hin zu Selbstversuchen (wie ernähre ich mich eine Woche lang von Algen?) sind also gefragt. Intelligente Anpassungsmodelle für ein posturbanes und postglobales Leben, darauf sollte man sich einstellen. Es ist beinahe obszön, dass nach den ersten Missionen in den Weltraum, also nach über einem halben Jahrhundert, kaum nennenswerte Modelle für ein intelligentes Leben auf der Erde existieren. Buckminster Fullers Versuch, die Welt effizienter zu gestalten, ist gescheitert, sein prognostizierter „kosmischer Bankrott“ ist eingetreten. Also dann doch auf zum Mond, zum Mars, ins All.

Text: SABINE POLLAK