Auf der Suche nach dem Original
Einen persönlichen Blick auf die Erde, unser Original, zu werfen, wird schon bald möglich sein. Der Superlativ im beinahe unendlichen Angebot der Tourismusbranche heißt Orbit. Der erste Weltraumtourist flog vor elf Jahren zur Internationalen Raumstation ISS und verbrachte eine Woche in etwa 380 Kilometern Höhe. Diesem Beispiel folgten bis dato sechs weitere Weltraumtouristen, die über das nötige Kleingeld und die entsprechende körperliche Fitness verfügten und noch dazu bereit waren, vorübergehend auf ihre Privatsphäre zu verzichten.
Der deutsche Philosoph Walter Benjamin stellte in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) im Pariser Exil die Frage nach dem Original. Vor dem Hintergrund der Erfindung der Fotografie bezieht er sich darin auf die Natur ebenso wie auf Kunstwerke, Artefakte der Natur, und formuliert seine Idee der Durchdringung von Ferne und Nähe eines Objekts als Aura. Durch die Kopierbarkeit verliere das Original seine (Innovations-)Kraft.
Der Planet Kepler 22b wurde dreimal nachgewiesen, seine Umlaufzeit beträgt 290 Tage. Seit letztem Winter hält sich mit dem Zwillingsplaneten der Erde in den Wohnzimmern aufmerksamer Medienbeobachter ein Lüftchen der Inspiration. Die Botschaft von einem zweiten Blauen Planeten in den Abendnachrichten beflügelte langfristig auch die Bewohner in einem europäischen Kleinstaat. Anfang April wurde die Mission der NASA zur teleskopischen Weltraumerkundung verlängert, um die unendlichen Weiten des Alls zu erforschen.
Die visuellen Technologien, die von der NASA zur medialen Aufbereitung der Bildinformationen eingesetzt wurden, sind allerdings irreführend. Die Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich und Andreas Vogl vom Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Johannes Kepler Universität Linz stellten klar, dass das verwendete Teleskop keine Planeten fotografieren konnte. Das Bild wurde gerechnet, Oberflächenstruktur, Atmosphäre oder Farbgebung liegen mit den erzielten Daten im spekulativen Bereich. Ihr Vorschlag lautet, die manipulativen Eingriffe bereits in der Bildunterschrift anzuführen.
Gerenderte Bilder sind trügerisch. Die Werbe-industrie liebäugelt mit unserer Kaufkraft mit gerechnetem Bildmaterial, das jenseits der Grenze zur Realität liegt. Das Potenzial der Apparaturen und Rechenprogramme, die für die Bildbearbeitung verwendet werden, hat in anderen Einsatzbereichen ebenfalls enormen Wert. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Medizin durch die Entwicklung der bildgebenden Verfahren revolutioniert. Hier, auf dem Weg ins Körperinnere, können in der Diagnostik deutlich präzisere Ergebnisse geliefert werden und bei invasiven Verfahren führt der Weg unter die Haut nun über wesentlich kleinere Operationsfelder.
Im öffentlichen Kulturbereich, in den Medien, im Fernsehen, im Internet und am Theater, in den Kinos, auf Festivals, in Galerien, Museen und Sammlungen, überall dort, wo der Blick auf Dinge oder ein Geschehen konzentriert ist, hat sich die Frage nach Original und Kopie gehalten. Vor einem neuen virtuellen Panorama kehrt die Debatte in die Öffentlichkeit zurück. Angesichts der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise faszinierend war die Rekordsumme von 120 Millionen Dollar, für die Der Schrei (1910) von Edvard Munch ersteigert wurde. Auch die erneute Thematisierung des Urheberrechts und das Ringen der Geisteswissenschaften nach Worten für die Benennung neuer technologischer Errungenschaften verdeutlichen den Bedarf, die Dinge richtig einzuschätzen und beim Namen zu nennen.
Memory of the World – hinter diesem Titel verbirgt sich eine Initiative der UNESCO. Es handelt sich um ein Archiv von universell bedeutenden Weltdokumenten, das vor zwanzig Jahren im Dienste der Internationalen Staatengemeinschaft angelegt wurde. An dem Programm, das Langzeitarchivierung im digitalen Zustand betreibt und die Maximierung von Zugangsmöglichkeiten zum Ziel hat, beteiligen sich derzeit 195 Nationen. Zahlreiche Menschen befassten und befassen sich direkt oder indirekt mit der Frage nach dem Original, der Urversion.
Der Stummfilm Metropolis (1927) von Fritz Lang erhielt kürzlich durch die Weiterbearbeitung von aufgefundenem Originalmaterial außergewöhnlich große Aufmerksamkeit. 2001 wurde der Filmklassiker in die Liste der Weltdokumente aufgenommen, im Jahr darauf lief eine digitalisierte und restaurierte Version in den Kinos. Ein sensationeller Fund in einem Archiv in Buenos Aires war der Anlass für eine umfangreiche Neubearbeitung. Ganze dreißig Minuten Originalmaterial, das auf leicht brennbarem Nitrofilm gedreht wurde, gelangte 2008 nach Berlin. Nun galt es, den ursprünglichen Filmschnitt und die Szenenabfolge des Regisseurs anhand des ebenfalls erhaltenen Drehbuchs von Thea von
Harbou aus dem Jahr 1924 digital zu montieren. So schaffte es Metropolis 2011 noch einmal in die Kinos. Die Arbeit an dem Monument erübrigt nicht zwingend die Frage nach dem Nutzen, da weiterhin einige Teile fehlen. Die Konservierung von Sequenzen in einer bestimmten Reihenfolge, die von den Autoren und Autorinnen ausging, ist indes gelungen. Ein Dokument – das erste seiner Art, ein Spielfilm im Welterbeverzeichnis –, das in seiner aktuellen Version dem Original am nächsten kommt.
Die abgegrasten Wiesen der Rezensionen und Interpretationen zu Metropolis strahlen erneut auf in diesen Bildern. Die Stadt Utopia wurde in Metropolis nach Entwürfen von Otto Hunte, Erich Kettelhut und Karl Vollbrecht realisiert. In einigen Szenen sind Modellbauten zu erkennen. Die Darstellung der Gebäudehöhen entspricht auch den Vorstellungen des futuristischen Architekten Antonio Sant’Elia, der zwar keine übereinander angeordneten Verbindungspassagen zwischen den Gebäuden zeigte, aber Start- und Landebahnen für Flugzeuge auf den Dächern zukünftiger Bahnhöfe plante. Ein Gebäudetypus, der in dem Film ebenso gezeigt wird wie Werften, Fabriken, Arsenale und immer wieder auch Schornsteine. Der Verkehr verstopfte in den aufwendig gefilmten Szenen bereits die Straßen, die Bewohner der „Oberstadt“ hatten wohl Flugzeuge, die im Stadtbild klar zu sehen sind. Raketen werden nicht thematisiert.
Die Eroberung des Weltraums hat in der Filmbranche weiterhin einen hohen Stellenwert. Nach Barbarella, Raumschiff Enterprise und Stanley Kubricks ausgezeichnetem Film 2001: A Space Odyssey, der, 1968 gedreht, Generationen von Designern beeinflusste, rückt die Reise ins All in den Bereich des Realen. Es ist möglich, und der amerikanische Millionär Dennis Tito 2001 hat es tatsächlich getan: die unendlichen Weiten über uns zumindest bis in 380 Kilometer Höhe zu bereisen und das Original, die Erde, mit den eigenen Augen zu bestaunen.
Text: DORIS GROSSI