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Peter H. Diamandis und Steven Kotler
Abundance: The Future Is Better Than You Think
Free Press, gebunden, Februar 2012
Englisch, 400 Seiten, 15,95 EUR
ISBN 978-1-45161421-3
www.abundancethebook.com

Im 400-seitigen Kompendium „Abundance: The Future Is Better Than You Think“ erfährt der Leser, wie unsere Weltgesellschaft in den nächsten dreißig Jahren zu ausreichend Energie, Wasser, Nahrung, Bildung, freien Zugang zu Information, Freiheit und Gesundheit gelangen kann – mittels exponentiell wachsender Technologie sowie Kooperation. Der Überfluss wird jedoch ins Wanken geraten, wenn sich die Technik nicht rasch genug entwickelt.
    Der erste Teil lässt sich leicht zusammenfassen: Im überschaubaren, lokalen Umfeld sind wir in der Lage, positiv in die Zukunft zu blicken. Sobald wir aber die Welt mit ihren komplexen Zusammenhängen zu verstehen versuchen, mutieren wir zu Pessimisten. Es mangelt an makroskopischem Denkvermögen, und das kann den Blick auf unsere Möglichkeiten verstellen.
    Google etwa wird bald in der Lage sein, unseren verlorenen Autoschlüssel zu orten. Die Datenflut bewirkt, dass wir das Denken in Alltagssituationen häufig der Technik überlassen. Auf der sozialen Ebene lässt sich konstatieren, dass das Durchschnittsgehirn maximal 150 Facebook-„Freunde“ überblicken kann.
    Die gut recherchierte Datenbasis macht den „New York Times“-Bestseller zu einer wertvollen Lektüre. Drei Beispiele: In weniger als 15 Jahren wird es 1.000-US-Dollar-Laptops geben, die wie ein menschliches Gehirn funktionieren. Menschen in abgelegenen Gebieten können sich bald durch einen mit einem Nano-Labor versehenen Chip eigenständig Medikamente verabreichen. 3D-Printer sind bereits in der Lage, kostengünstige Prototypen, wie etwa für Häuser, zu produzieren.
    Damit der Glanz des technisch Machbaren nicht durch Abstraktion zunichte gemacht wird, werden soziale Unternehmer vorgestellt, als würde man ihnen gerade über die Schulter schauen. Auf so mancher Seite schnuppert der Leser Garagenluft, indem er Erfolgsprojekte von Bastlern kennenlernt. Das nicht zuletzt dadurch zutiefst amerikanische Buch zeigt all das, was sonst von Pessimismus verdeckt wird. Kritikpunkt: Die Gefahren der Technik werden nur am Rande erwähnt.

UTE MÖRTL

 

 

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Martin und Werner Feiersinger
Italomodern: Architektur in Oberitalien 1946–1976
Mit einem Essay von Otto Kapfinger
Architektur und Tirol (AuT); Ritter, Arno (Hrsg.)
2012, 384 S., 227 Abb. in Farbe. 39,95 EUR
ISBN 978-3-7091-0851-2


Lange war Italien in gestalterischen Fragen das Maß aller Dinge. Ein Verdienst von Arno Ritter ist, dass die Brüder Feiersinger ihre Recherche, die auf einer Studienreise begann, zu einer Ausstellung im AuT in Innsbruck zusammengefasst und in einem Katalog konserviert haben. Daraus entstand dieser Architekturführer.
    Die Auswahl der 84 dokumentierten Bauten hält sich an keine wissenschaftlichen Regeln, sondern feiert die Kreativität und das Experiment, die in dieser Zeit in einer unbekannten Vielfalt umgesetzt werden konnten – winzige Ferienhäuser entstehen neben megalomanischen Strukturen, Wohnbauten neben Industriebauten und sakralen Räumen.
    Die Brüder Feiersinger haben sich durch ihre Arbeitsteilung in einen Dialog begeben, der dem Leser viel Raum gibt: Martin ist hauptverantwortlich für die kompakten, fundierten Texte, die vielfach das Gebäude auch in den Kontext der internationalen Bewegungen der Zweiten Moderne stellen. Für jedes Projekt hat er meist einen Plan neu erstellt, der den jeweils charakteristischsten Aspekt grafisch verdeutlicht. Die Fotos sind von Werner, sie vermitteln beim ersten Hinsehen eine selbstverständliche Alltagsästhetik, geben jedoch bei genauerem Studium eine präzise, unaufdringliche Komposition preis. Die Bilder führen uns aus der Gegenwart in eine Zeit, als die Annahme, die Architektur werde die Gesellschaft positiv verändern, selbstverständlich war.
    Als eigenständige Schicht ziehen sich Notizen von Otto Kapfinger auf roten Seiten quer durch das Buch und geben Einblick in seine Analysemethoden und persönliche Assoziationsketten. Das Format ermöglicht es ihm, die Bezüge und die Tradition des kulturellen Austauschs zwischen Italien und Österreich darzustellen und relevante Zitate anderer Autoren aus der Periode einzufügen.
    Erwähnt werden sollte noch, dass für das Buch erstmals die Schrift Agipo von Radim Pesko eingesetzt wurde, die das historische Gefühl dieser Zeitperiode in das Computerzeitalter übersetzt. Das Papier der Hülle kommt aus Holland und hat eine überraschende wildlederartige Kuschelqualität.

DAVID PASEK

 

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Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz –
Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung

Aus dem Englischen von Robin Cackett
Campus Verlag, Frankfurt/New York
2010, 224 Seiten. 24,90 EUR
ISBN 978-3-593-39262-2


Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty gilt als Protagonist postkolonialer Geschichtsschreibung. Als Mitbegründer der „Subaltern Studies“, einer Gruppe von Theoretikern, die sich an die Lehren des italienischen Marxisten Antonio Gramsci anlehnt, befasst er sich mit der Geschichte der Entkolonialisierung aus der Perspektive der Massen und Unprivilegierten.
    In seinen Forschungsprojekten kritisiert Chakrabarty, dass Europa im wissenschaftlichen Diskurs, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften, als „stillschweigender Maßstab“ dient. Die Geschichten nicht-westlicher Gesellschaften werden somit als untergeordnete Versio-nen einer vermeintlich universellen, europäischen Narrative verfälscht.
    Chakrabarty plädiert für einen Perspektivenwechsel in der Geschichtsschreibung, jenseits einer eurozentristischen Position. Dabei diskutiert er die Schwierigkeiten dieses Vorhabens. Ideale und Kategorien eines modernen Europas wie Aufklärung, Individualisierung und Emanzipation stoßen bei dem Versuch der Analyse und Historisierung nichteuropäischer Kulturen unweigerlich an ihre Grenzen. Historiographisch verwendete Fachbegriffe wie Nation, Staat, Revolution verweisen auf europäische Ideen und Standards und lassen eine objektive wissenschaftliche Erfassung nicht zu. Andererseits ist es das europäische Denken – die europäischen Ideale der Freiheit und der Emanzipation –, das eine Auflehnung gegen die Repression der Kolonialherrscher und Kritik an den aufgezwungenen Ideologien erst ermöglicht hat. Dieses Dilemma lässt den Versuch, Europa zu provinzialisieren, zu einem „unmöglichen Projekt“ werden, was Chakrabarty auf das ambivalente Wesen Europas zurückführt, das sich heute mehr denn je zu offenbaren scheint.
    Das Buch „Europa als Provinz“ ist eine Sammlung wichtiger Aufsätze des Historikers, die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen. Der Band beinhaltet einige Kapitel des englischen Originals „Provincializing Europe“ sowie neuere Texte aus „Habitats of Modernity“ und „Das Klima der Geschichte“.

PANAJOTA PANOTOPOULOU