Nordrand
Wenn wir an den nördlichen Rand der Welt denken, taucht vor unserem geistigen Auge eine weite weiße – und menschenleere – Fläche auf. Die Architektin Ann-Sofi Rönnskog und der Urbanist John Palmesino von der Territorial Agency wollen dieses Bild mit ihrem Forschungsprojekt „North“ verändern. Denn: Unter dem Blickwinkel des Klimawandels werden die nordischen Karten längst neu gemischt – und gezeichnet.
Die Krisen-Debatten über die EU und in der EU führen zu einer großen Verunsicherung in der europäischen Bevölkerung. Politikverdrossenheit ist weit verbreitet. Das Vertrauen in die Politik ist weitgehend verloren gegangen, Grund sind die gravierenden Versäumnisse der letzten Jahre. Bürger sind teils entmündigt. Bei wichtigen Entscheidungen können sie nicht mitbestimmen, allenfalls marginal Einfluss darauf nehmen. Folglich ist die Souveränitätsdefinition weitgehend verschwommen. Vereinfacht: Wer ist in der Lage zu entscheiden? Wo wird entschieden? Diese Ungewissheit über Autoritäten und Entscheidungsfindungen lässt (passive) Bürger und Aktivisten gleichermaßen in einem politischen
Dämmerzustand verharren. Wir wissen nicht mehr genau, wer über den Raum um uns herum entscheidet – und die Mittel und Instrumente sind ebenso unklar. Auch die Vereinten Nationen sind ein gutes Beispiel für diese sich in vielen Bereichen verändernde Souveränität. UN und EU schaffen neue Territorien, die neben überregionalen wirtschaftlichen Übereinkünften auch Räume innerhalb eines Staates neu definieren. Dabei geht es auch um jene Räume, die sich innerhalb solcher territorialen Veränderungen und Mechanismen materialisieren, also entstehen.
Urbane Veränderungen
und Auswirkungen auf
Handlungsräume
Genau damit beschäftigen sich der Stadtforscher John Palmesino und die Architektin Ann-Sofi Rönnskog. Warum ein Architekt sich solcher Entwicklungen bewusst sein sollte? Palmesino: „Unsere Forschung darf man nicht zu abstrakt verstehen. Wir sind nicht an extremen, exotischen Gegebenheiten als solchen interessiert, um den Architekturbegriff möglichst weit auszudehnen. Was wir wollen, ist, die Zusammenhänge zu verstehen, Instrumente zu finden, um „material space“ in verschiedenen Gesellschaften überhaupt umsetzen zu können. Architektur muss sich schließlich materialisieren. Und dazu zählt nicht nur rein technisches Wissen.“
Architektur ist ein sozial-gesellschaftlicher Akt, deswegen muss der Architekt zumindest wissen, in welchem Umfeld sich der jeweilige Akt bewegt. Die beiden Forscher widmen sich in ihrer Territorial Agency urbanen Veränderungen und deren Auswirkungen auf Handlungsräume (polities). Die unabhängige Organisation sucht nach innovativen, nachhaltigen Lösungen und arbeitet daran, neue Instrumente und Methoden zur Sicherung architektonischer Qualität in diesen neu organisierten Gebieten zu schaffen.
Neue Räume in der Arktis
Konkreter wird es, wenn man sich die Polarregion der nördlichen Erdhalbkugel ansieht. Die Arktis umfasst Teile der drei Kontinente Europa, Asien und Nordamerika sowie das Nordpolarmeer, das großteils von Eis bedeckt ist. In den letzten Jahrzehnten wurde wenig Augenmerk auf diese Sphäre gelegt. Hören wir von Grönland oder Sibirien, so denken wir an Eskimos oder Eisbären; auf keinen Fall assoziieren wir mit diesen Gebieten eine Industrialisierung oder gar Kolonisierung. Doch genau das passiert dort seit einiger Zeit – und zwar massiv.
Auslöser war der Klimawandel, dessen Wirkung zwar auf globaler Ebene viel diskutiert wurde, jedoch im besten Fall fragmentarisch. Die Veränderungen der nordischen Gebiete werden nicht als gesamte Entwicklung – strategisch, wirtschaftlich, geopolitisch und wissenschaftlich – wahrgenommen, weder in der Politik noch in den Medien. Doch gerade dort, wo die Eismassen schmelzen, kommt es nicht nur zu negativen Entwicklungen – es werden auch neue Märkte eröffnet. Durchaus ein Fortschritt mit ironischer Komponente: „Durch das Schmelzen der Eiskappen entstehen bisher unerschlossene See-Transportwege und damit der Zugang zu neuen mineralischen, biologischen Ressourcen und Rohstoffen. Das ist zwar einerseits absurd, bedeutet andererseits jedoch ein unglaubliches wirtschaftliches Potential“, so Palmesino.
Neben diesen ökonomisch bedingten Entwicklungen wird in diesem Zusammenhang vor allem das Thema der Souveränität in vielerlei Hinsicht diskutiert. Die nördlichen Gebiete gelten auch unter diesem Aspekt als speziell: Island hat sich neu konstituiert, Grönland bestätigte 2008 seinen autonomen Status in der Loslösung von Dänemark, und auch in Kanada und Alaska regen sich Minderheiten. „Ich würde sogar so weit gehen, dass die Wahrnehmung einer Souveränität bzw. deren Neudefinition in den nordischen Ländern beispielgebend in der politischen Landschaft ist. Im „Norden“ stellt sich wirklich die Frage: „Wem gehört das Land? Wer hat die Souveränität?“ Ansprüche auf Autonomie und Selbstbestimmtheit entstehen nicht zuletzt aus fehlendem Zusammengehörigkeitsgefühl.
Neue Seewege
Ein weiterer Aspekt ist die Öffnung des Ostens. Russland öffnet neue Transportwege im Norden. Die Nord-Ost-Seeroute wurde letztes Jahr von 43 interkontinentalen Schiffen benutzt – Tendenz steigend. Zuvor war dieser Seeweg großteils von Eisflächen bedeckt und lag innerhalb des russischen Seeterritoriums, war also ein für Russland exklusiver. Dieser Raum wurde folglich geregelt, und Instrumente mussten für ein Gebiet gefunden werden, das eben auf der Landkarte erschienen ist: Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen: SRÜ (englisch: UNCLOS), 1994 ratifiziert, organisiert damit plötzlich auch Wirtschaftszonen mit besonderen Rechten der Küstenstaaten. Erstmals wird auch das Meer samt Meeresboden und Bodenschätzen geschützt. Länder, die früher eine Küste mit ganzjährig zugefrorenen Küstenstreifen hatten, können nun auf Basis dieser neuen Gesetze die Navigation und Transporte vor ihren Küsten steuern/minimieren. Dieser länderübergreifende Umweltschutz wäre früher gar nicht notwendig gewesen. Japan und Korea arbeiten längst an neuen Schiffen, die besser auf diesen gefährlichen Routen navigieren können; schließlich sparen die angrenzenden Länder über diesen neuen Seeweg ein Drittel des Weges nach Europa ein.
Produktion neuer Landkarten
Auch die Landkarten werden ständig neu gezeichnet. Der Journalist und Kartograph Philippe Rekacewicz leistete mit seinen Karten einen wichtigen Beitrag. Dabei geht es nicht immer um die „Vermessung der Welt“, sondern auch um deren Darstellung: „Es ist manchmal so leicht, über Probleme zu reden, aber schwer, sie zu zeigen.“ Auch für die Architektur ist die Produktion der Karten ein wichtiges Mittel, die Zusammenhänge zu verstehen – oder überhaupt erst einen Raum als solchen wahrzunehmen. So haben Satellitenbilder auch die Wahrnehmung von Landschaft selbst verändert. Auch die Landkarte verändert das Konzept, das wir von ihr haben. Man kann gleichzeitig außerhalb und innerhalb sein. Das Bild und seine Reproduktion schaffen eine Wechselwirkung: Das Bild verändert die Landschaft und auch die Idee der Landschaft. „Die Produktion der Landkarte formt die Landschaft – und damit den Raum. Ein Architekt kann sich diese Mechanismen aneignen, er befindet sich naturgemäß immer zwischen Realität und individueller Vorstellung“, resümiert Palmesino.
Text: MANUELA HÖTZL
Fotos: TERRITORIAL AGENCY