Stuttgart 21 – Der Nabel Schwabens

Ist das nicht gelaufen? Der erste Gedanke, den man wohl zu Stuttgart 21 hat. Das mag daran liegen, dass das Projekt vor ungefähr 30 Jahren ins Rollen kam, aber nie richtig ins Laufen, eher ins Stocken und seitdem Dauerthema in den Medien ist und auch in Zukunft sein wird. Geplante Fertigstellung ist Dezember 2020.

Ähnlich wie bei den anderen beiden deutschen Großbauprojekten, dem Berliner Flughafen und der Hamburger Elbphilharmonie, ist Stuttgart 21 ein spannender Baukrimi. Es geht um massive Bürgerproteste, Demonstrationen, eine Volks­abstimmung, Morddrohungen und eine Kosten­explosion in Milliardenhöhe.
    Stuttgart. Wenn man als Nicht-Stuttgarter den Hauptbahnhof zum ersten Mal sieht, erinnert er unwillkürlich an eine alte Ritterburg oder an die Walhalla-Gedenkstätte Ludwigs I. Das massige sandsteinfarbige Gebäude gilt durch seinen prägnanten Bahnhofsturm als Wahrzeichen der Stadt. „Umbilicus Sueviae“ – Nabel Schwabens – nannte der Architekt Paul Bonatz seinen Entwurf des 1928 fertiggestellten Kopfbahnhofs.

    PROJEKTENTWICKLUNG
In den 1990er Jahren sprach sich das Land Baden-Württemberg für eine Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart aus. Der oberirdische Kopfbahnhof sollte zum unterirdischen Durchgangsbahnhof umgebaut werden, die Zulaufstrecken in Tunnel verlegt und die dadurch frei gewordenen Gleisflächen der Stadtentwicklung zur Verfügung gestellt werden. Die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm sollte den Flughafen einbinden. 1995 wurden die Rahmenbedingungen für die Umsetzung des Projekts getroffen, das insgesamt 5 Milliarden DM kosten sollte, finanziert von der Deutschen Bahn, der Bundesrepublik Deutschland, dem Land Baden-Württemberg, der Region Stuttgart, der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Flughafen Stuttgart.
    Der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven gewann 1997 den Architekturwettbewerb für das Kernstück des Projekts, den Neubau des unterirdischen Durchgangsbahnhofs. Sein Entwurf sah vor, die historische Bahnsteighalle zu renovieren und den Seitenflügel abzureißen. Ähnlich wie David Chipperfield beim Neuen Museum in Berlin wollte Ingenhofen dabei Fragmente sichtbar machen, Abbruchmaterial wiederverwenden und Brüche erkennbar machen. Zum unterirdischen Bahnhof sollte die neue Bahnsteighalle führen, deren Tragwerk aus Lichtaugen bestand, welche die Bahnsteigebene mit der Platz- und Parklandschaft darüber verzahnen sollten.
    Allerdings wurde das Projekt 1998 vom damaligen Bahnchef gestoppt. Es war schlichtweg zu groß und zu teuer für die Bahn. Land, Stadt, Regionalverband und Flughafen Stuttgart eilten zu Hilfe und steuerten zusätzliche 1,3 Milliarden DM bei. Die Verhandlungen um die Kostenverteilung ließen das Projekt nur langsam fortschreiten. 2005 erteilte das Eisenbahn-Bundesamt die Baugenehmigung für die Umwandlung des Bahnhofs. Gegen das Groß­projekt folgte prompt ein Bürgerentscheid mit 67.000 Stimmen, wurde aber 2007 vom Gemeinderat der Landeshauptstadt abgelehnt. Die Bauarbeiten begannen im Februar 2010.

Stuttgard 21 ©Atelier Peter Wels

    KOSTENEXPLOSION
Schwaben sagt man Sparsamkeit nach, aber anscheinend ist das nicht immer so. 2008 räumte die Landesregierung Mehrkosten ein. Inzwischen gab es den Euro. Das Projekt sollte nicht mehr 2,8 Milliarden Euro, sondern 3,076 Milliarden kosten, und obwohl die Kosten 2009 schon auf inzwischen 4,1 Milliarden geschätzt wurden, billigte man das Vorhaben weiterhin. Im Februar 2010 begannen die Bauarbeiten.
    Im Dezember 2012 teilte der Bahnvorstand mit, dass das Projekt aufgrund neuer Analysen mit 5,1 Milliarden Euro kalkuliert werde. Hinzu käme noch ein Pufferbetrag von 1 Milliarde Euro für allfällige Risiken. Ursache waren vermutlich die Tunnel, die bisher ohne eisenbahntechnische Ausrüstung kalkuliert wurden. Oberleitungsanlagen, Systemtechnik, sowie Brandschutztore fehlten. Im Januar 2013 wurde bekannt, dass sich die Gesamtkosten nach internen Hochrechnungen der Deutschen Bahn auf rund 11 Milliarden Euro belaufen könnten und die Fertigstellung nicht vor 2025 erfolge. Dies teilte der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im deutschen Bundestag Anton Hofreiter (Grüne) mit. Die Deutsche Bahn wies allerdings jegliche Spekulationen über Kostensteigerungen und Terminverschiebungen zurück und sprach von einem fragwürdigen politischen Manöver der Grünen. Grund für die Kostenexplosion sollten die 70 Kilometer langen Tunnelbauten im Stadtgebiet sein. Ebenso war mit Mehrkosten für den Brandschutz des Tiefbahnhofs, die Entrauchungs­anlagen und die Evakuierung im Notfall zu rechnen.

    WUTBÜRGER
Eine weitere Tugend, die man den Schwaben nachsagt, ist Beharrlichkeit. Und diese bewiesen sie bei den Bürgerprotesten gegen Stuttgart 21. Erstmals seit den 70er Jahren gingen wieder alle zusammen auf die Straße: Hausfrauen, Studenten, Pensionisten, Linke, Rechte, Grüne. Kritikpunkte waren neben der Ausgabe der enormen finanziellen Mittel der Abriss des Seitenflügels des Hauptbahnhofs und das Fällen bestehenden Baumbestands. Zudem befürchteten sie Risiken für das Stuttgarter Mineralwasservorkommen, das zweitgrößte Europas. Die geplanten unterirdischen Bahnanlagen könnten die wertvollen Quellen verschmutzen oder beeinträchtigen.
    Seit November 2009 fanden wöchentlich Montagsdemonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern statt. Im Juli 2010 besetzten 50 Demonstranten den für den Abriss leerstehenden Seitenflügel des Kopfbahnhofs. Das Gebäude wurde vom Sondereinsatzkommando geräumt. 2.000 Gegner protestierten durch Sitzblockaden und Straßensperren gegen den Bauzaun, der für den bevorstehenden Abriss aufgebaut wurde. Anfang Oktober 2010 wurden im Schlossgarten die ersten 25 Bäume gefällt, um das Grundwassermanagement vorzubereiten. Die Situation eskalierte und eine Straßenschlacht entbrannte zwischen Demonstranten und der Polizei, die Schlagstöcke, Wasserwerfer und Pfefferspray einsetzte. Hunderte Demonstranten wurden verletzt. Daraufhin erhielt Bahnchef Rüdiger Grube Morddrohungen und musste zeitweise unter Polizeischutz gestellt werden.
    Die darauffolgenden Schlichtungsversuche führten nur zu einem Meinungsaustausch der Kontrahenten, aber zu keiner Lösung.
    Die oppositionelle SPD, die wie die Regierungs­koalition aus CDU und FDP für das Vorhaben war, wollte daraufhin die Bürger über das milliarden-schwere Bahnprojekt entscheiden lassen. Im November 2011 kam es zu einer Volksabstimmung. 58,9 Prozent der Wähler waren für die Landesfinanzierung und somit für Stuttgart 21.
    Doch der Baukrimi ist noch nicht zu Ende. Anfang des Jahres ging die Bundesregierung auf Distanz zum Bahnhofsprojekt und forderte eine Aufklärung der Deutschen Bahn in einem Fragen­katalog über die jüngste Kostenexplosion.

Text: JENNIFER LYNN ERDELMEIER