Ein seltsames Paar oder The Last Waltz

Wie kein Zweiter prägte Architekt Arthur Erickson in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Gesicht des modernen Kanada. Er schuf Universitäten, Museen und Theater. Er baute Justiz- und Verwaltungszentren, Botschaften und die Residenz des Premierministers. Nebenbei hinterließ er einige der spektakulärsten Wohnhäuser seiner Zeit. Man feierte ihn als „Beton-Poeten“ und nannte ihn den „vielleicht größten Architekten des amerikanischen Kontinents“. Dass er diese Würdigungen auch dem genialen „Interior Designer“ Francisco Kripacz zu verdanken hatte, der fast 30 Jahre an seiner Seite arbeitete und lebte, verschwieg Erickson gern, weil er um seinen Erfolg fürchtete. Erst kurz vor seinem Tod bekannte sich Erickson zu Kripacz und schrieb ein Buch über ihn. Das Manuskript wurde nun aus dem Nachlass veröffentlicht. Eine späte Würdigung.

Von Uwe Bresan

Schon das Titelbild ist verführerisch! Im Vordergrund formen elegante, weiße Polstermöbel, die sich um einen offenen Kamin gruppieren, ein intimes Arrangement, während große Glasfronten den Blick über die Terrasse aus Holz hinweg auf das Meer öffnen und der überhohe Innenraum von oben in intensives Sonnenlicht getaucht wird. Es ist das mondäne Interieur eines modernen Strandhauses in den Dünen, das zunächst unsere Aufmerksamkeit fängt, bevor uns der Name des Architekten, der sich in großen, schwarzen Lettern über das obere Drittel der Bildfläche legt, ins Auge fällt: Francisco Kripacz.

Wohnzimmer – Apartment im 37. Stockwerk des Olympic Towers ©Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson

Portrait Francisco Kripacz ©Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson
Das Bild zeigt Francisco Kripacz in dem von ihm gestalteten Apartment im 37. Stockwerk des Olympic Towers (siehe auch Bild oben). Eine Spezialität des „Interior Designers“ war das Spiel mit feinen Graunuancen und darauf abgestimmten Kontrasten. Er war – abgesehen von einem kurzen Designstudium – Autodidakt. Gleichwohl kann sein Einfluss auf das gefeierte Werk von Erickson kaum überschätzt werden. Vor allem hinsichtlich der Innenraumgestaltung seiner Bauten vertraute Erickson vollkommen auf das Urteil von Kripacz.
 

Rein äußerlich unterscheidet sich der knapp 200 Seiten starke Bildband, der dem Werk des im Jahr 2000 verstorbenen kanadischen „Interior Designers“ gewidmet ist, damit kaum von anderen zeitgenössischen Architektenmonographien. Gleichwohl dürfte das Buch zu den bemerkenswertesten Architekturtiteln des Jahres zählen. Denn hinter dem kleinen, feinen Band verbirgt sich die Geschichte einer großen und tragischen Liebe, deren Spuren in den Bildern und kurzen Texten des Buches aufgehoben sind. Sie führen unter anderem in ein idyllisches, kleines Haus in einem ruhigen Vorort von Vancouver, dessen mit samtigen Wildleder-Fliesen verkleideter Wohnraum fast nahtlos in einen verwunschenen, chinesischen Garten übergeht.

Sie führen aber auch in den gediegenen Umbau einer alten Wagenremise auf einem herrschaftlichen Anwesen auf einer Anhöhe über Toronto. Die in edlem Grau gehaltenen Räume beherbergen Möbel von Le Corbusier und Mies van der Rohe, während sich Kunstwerke von Jasper Johns und Roy Lichtenstein über die Wände verteilen.

Von hier aus geht es weiter in das elegante Haus am Strand von Fire Island bei New York, das auch auf dem Buchumschlag abgebildet ist und dessen verschiebbares Dach den Wohnraum zum Himmel öffnet, sowie in das luxuriöse Apartment im 37. Stockwerk des Olympic Towers im Herzen von Manhattan mit seinen verspiegelten Wänden und glänzenden Böden, in denen sich das Glitzern der Metropole vervielfacht. Und nicht zuletzt führen die Spuren auch in das vornehme Bürohaus am legendären Robertson Boulevard in Beverly Hills, dessen geschwungene Betonfassade von einer dünnen Schicht Glas bedeckt wird, was dem Gebäude eine geheimnisvolle Tiefe verleiht, während das graue Interieur durch kräftige farbige Akzente zu vibrieren scheint.

Eine solche Auflistung von Orten und Gebäuden ist für eine Architektenmonographie zunächst nichts Ungewöhnliches. Was sie jedoch zu einer Geschichte verbindet, ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht um eine Liste von Auftragsarbeiten handelt, sondern vielmehr um die wichtigsten Lebensstationen des Architekten selbst. Denn Francisco Kripacz gestaltete die erwähnten Interieurs mit ihren teuren Innen-Ausbauten, den extravaganten Materialien und Möbeln und den zahlreichen Kunstwerken nicht für irgendwelche Auftraggeber, sondern er gestaltete sie für sich und seinen Lebensgefährten, den wohl berühmtesten kanadischen Architekten des 20. Jahrhunderts: Arthur Erickson.

Haus von Helmut Eppich in Vancouver ©Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson
Neben Universitäten, Museen, Konzert- und Theaterhäusern, plante Erickson zusammen mit Kripacz auch einige der spektakulärsten Wohnhäuser des 20. Jahrhunderts – etwa das Haus von Helmut Eppich in Vancouver aus dem Jahr 1972, das sich in mehreren Stufen einen steilen Hang hinunter treppt und in einen kleinen See ausläuft. Es war eines der ersten Privathäuser in Kanada, das nicht aus Holz, sondern aus Beton bestand.
 

SPÄTE WIEDERGUTMACHUNG UND LETZTE LIEBESERKLÄRUNG

Wie kein Zweiter prägte Erickson seit den frühen 1960ern mit seinen Gebäuden das Gesicht des modernen Kanada. Er baute riesige Universitäts-Komplexe, moderne Museumsbauten, große Konzert- und Theaterhäuser, Gerichtsgebäude, Banken und Krankenhäuser. Er war für die zentralen Bauten der Expo 1967 in Montreal verantwortlich und schuf den kanadischen Pavillon auf der Weltausstellung in Tokio 1970. Er gestaltete die offiziellen Büroräume des kanadischen Premierministers und die kanadische Botschaft in Washington. Später plante und baute er auch in Europa, in Asien und im Nahen Osten. Nebenbei hinterließ einige der spektakulärsten Wohnhäuser des 20. Jahrhunderts. Für seine Arbeiten erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Unter anderem wurde er 1986 als erster und bis heute einziger kanadischer Architekt mit der renommierten Goldmedaille des AIA, des US-amerikanischen Architektenverbandes, geehrt. Die Presse feierte Erickson damals als „Beton-Poeten“ und Philip Johnson, der Doyen der amerikanischen Nachkriegsarchitektur, nannte ihn „den vielleicht größten Architekten des amerikanischen Kontinents“. Was allerdings nur wenige seiner Bewunderer damals wussten, war, dass Erickson all diese Erfolge auch seinem Lebensgefährten Francisco Kripacz zu verdanken hatte, der seit den frühen 1960ern an der Seite des berühmten Architekten lebte und arbeitete. Für Kripacz war es ein Leben im Geheimen. Nur wenige, enge Freunde, darunter auch der langjährige kanadische Premierminister Pierre Trudeau – er ist der Vater von Justin Trudeau, dem heutigen Premier des Landes –, waren eingeweiht. Denn Erickson wusste genau, dass das Bekanntwerden seiner Homosexualität seinem geschäftlichen Erfolg als Architekt im Wege gestanden hätte. „To be openly gay at that time would not have been good for business“, rechtfertigte sich Erickson später dafür, dass er seine Beziehung zu Kripacz vor der Öffentlichkeit geheim hielt und den Anteil, den sein Lebensgefährte an vielen seiner Werken hatte, verschwieg. Die Kripacz-Monografie, die Erickson selbst nach dem Tod seines Lebensgefährten zusammenstellte und die nun sieben Jahre nach Ericksons eigenem Ableben im Jahr 2009 aus dem Nachlass heraus veröffentlicht wurde, kann deshalb als eine Art nachträgliche Wiedergutmachung gelesen werden – als eine letzte, große Liebeserklärung.


Das Haus und seine beiden Bewohner wurden schnell zu lokalen Berühmtheiten und noch heute berichten Weggefährten euphorisch von den glamourösen Festen, die Erickson und Kripacz auf der Insel veranstalten. Vor allem eine Party im Sommer 1979, als die Gastgeber das Haus bis zur Decke mit goldenen und silbernen Luftballons füllten, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis von Fire Island eingebrannt. Punkt Mitternacht öffnete sich das Dach und entließ die Ballons in den Himmel, während auf der Terrasse die Sängerin France Joli umringt von hunderten halbnackter Männer ihre Disco-Hymne „Come to Me“ in die Nacht hinaus schmetterte.



VON VANCOUVER ÜBER TORONTO NACH NEW YORK

Kennengelernt hatten sich der 1924 geborene Erickson und der fast 20 Jahre jüngere Kripacz 1961 auf einer Party in Vancouver. Augenblicklich erregte der geheimnisvolle, junge Mann mit seinem dunklen Teint und seinen tiefschwarzen Haaren Ericksons Aufmerksamkeit. Als Freunde von Erickson dann 1962 eine Party organisierten, um dessen fulminanten Erfolg im Wettbewerb für den Neubau der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby zu feiern, gehörte Kripacz bereits wie selbstverständlich zu Ericksons Entourage.

Es war der erste große Wettbewerbsgewinn für den Architekten und – abgesehen von einigen kleineren Aufträgen – der eigentliche Beginn seiner Karriere. Von nun an, so scheint es, wich Kripacz kaum mehr von Ericksons Seite, was viele Freunde des Architekten verstörte. Einerseits waren sie von Ericksons plötzlichem Coming-out überrascht, zum anderen hielten sie den temperamentvollen jungen Mann für unreif und rieten dem eher ruhigen und zurückhaltenden Erickson von der Verbindung ab. Der ließ sich jedoch nicht beirren und unterstützte seinen jugendlichen Liebhaber in dessen Ambitionen. Für kurze Zeit schrieb sich Kripacz damals für ein Designstudium an der Kunsthochschule ein, verlegte sich aber schon bald – unterstützt von Erickson – auf den Handel mit teuren, europäischen Designermöbeln, die damals in Nordamerika noch kaum bekannt waren. Zusammen lebten sie in dem kleinen Haus in Vancouver, das Erickson nach seinem Studium erworben hatte und das ihm zeitlebens als Rückzugsort diente. 

Francisco Kripacz und Arthur Erickson – Portrait ©Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson
Kennengelernt hatten sich Francisco Kripacz und Arthur Erickson zu Beginn der 1960er Jahre. Während Erickson als ruhig und zurückhaltend galt, wurde der fast 20 Jahre jüngere Kripacz von Freunden als äußerst temperamentvoll und extrovertiert beschrieben. Kripacz hatte einen wesentlichen Einfluss auf das Werk von Erickson. Auch nach ihrer Trennung in den späten 1980er-Jahren blieben sie eng verbunden.

Als Kripacz hier in den frühen 1960ern einzog, entstanden auch die edlen Wandvertäfelungen aus beigem Wildleder, die den Wohnraum in die moderne Version eines klassischen Salons verwandelten. Dazu kam der geheimnisvolle Garten, den Erickson nach chinesischen Vorbildern realisierte und der den großen Wohnraum nach draußen verlängerte. Der zunehmende Erfolg des Architekten und seine Aufträge für die Weltausstellung in Montreal veranlassten das Paar jedoch Mitte der 1960er zum Umzug. Von Vancouver an der kanadischen Westküste ging es mehr als 4.000 Kilometer ostwärts nach Toronto. Die Ortswahl war dabei in mehrfacher Hinsicht strategisch. So suchte Erickson gezielt die Nähe zu einflussreichen Kreisen, um sich für neue Aufträge zu empfehlen. Montreal, der Schauplatz der Weltausstellung 1967, wie auch Ottawa, die kanadische Hauptstadt, lagen nur wenige Autostunden von Toronto entfernt.

Empfangsbüro des kanadischen Ministerpräsidenten, Ottawa ©Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson

Einer der prestigeträchtigsten Aufträge von Erickson war die Neugestaltung des Arbeitszimmers und der Empfangs- bereiche des kanadischen Premierministers in Ottawa. Auch hier lässt sich die feine Handschrift von Kripacz überall erkennen. Der damalige Premierminister Pierre Trudeau war ein enger Freund von Erickson. Die Nähe zum mächtigen Premier bot Erickson und Kripacz auch einen gewissen Schutz vor Nachstellungen und Denunziationen.
 

Entscheidender als die Nähe zu den politischen und kulturellen Machtzentren Kanadas war allerdings die Nähe zu New York. Die Stadt galt in den 1960ern als schwules Mekka und Erickson und Kripacz knüpften von Toronto aus schnell Kontakte in die amerikanische Ostküstenmetropole – und hier vor allen zu den Künstlerkreisen um Andy Warhol, Roy Lichtenstein und Jasper Johns. Ihr gemeinsames Zuhause in Toronto, eine umgebaute Wagenremise, legte davon Zeugnis ab. Das Wohnzimmer beherrschte ein monumentaler Lichtenstein-Fries, während das runde, mit roter Seide ausgeschlagene Ankleidezimmer eine Bilderserie von Jasper Johns aufnahm. Die Möbel und Leuchten wiederum stammten von bekannten europäischen Marken wie Cassina, B&B Italia und Flos, deren kanadischen Vertrieb Kripacz betreute. Für das kleine Haus in Toronto ließ er zudem zahlreiche Stahlrohrklassiker der frühen Moderne von Le Corbusier, Mies van der Rohe, Marcel Breuer und Eileen Grey importieren – ein unerhörtes Novum für die damalige Zeit in Kanada! Das fertige Haus verwaiste jedoch schnell, denn immer öfter zog es Erickson und Kripacz von hier weg zu ausgedehnten Aufenthalten nach New York. Ein berühmtes Pressebild aus dem Getty-Archiv zeigt Kripacz auf der Tanzfläche des legendären New Yorker Nachtclubs Studio 54 – gemeinsam mit Margaret Trudeau, der damaligen kanadischen First Lady und der Mutter des heutigen Premiers Justin Trudeau. Ihr Mann und Arthur Erickson hatten sich 1968 bei einem Empfang kennengelernt. Die enge Freundschaft der beiden Männer übertrug sich schnell auch auf ihre jeweiligen Partner, wobei die Nähe zur mächtigen Premiersfamilie auch einen gewissen Schutz für Erickson und Kripacz bedeutete ...

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Francisco Kripacz Monografie © Die Abbbildung Stammt aus der Monografie: "Francisco Kripacz" von Arthur Erickson
Die Monografie, die Arthur Erickson selbst nach dem Tod seines Lebensgefährten zusammenstellte und die nun sieben Jahre nach Ericksons eigenem Tod im Jahr 2009 aus dem Nachlass heraus veröffentlicht wurde, ist eine späte Liebeserklärung an Franzico Kripacz, der fast 30 Jahre an Ericksons Seite lebte und arbeitete.

Alle Abbildungen stammen aus der Publikation.