La Dame à la Licorne
Mein einziges Verlangen – Im Zentrum des Geschehens, die Dame. Die junge schöne Frau wird von einem Einhorn, christlich-mythologisches Wesen – wundersam sinnbelastet – und einem Löwen flankiert. In der mittelalterlichen Vorstellung gelingt es einzig der Jungfrau, das Einhorn einzufangen. Hasen (Versuchung,Wollust), Hunde (Treue, Gehorsam), ein Affe (Neid, Wollust, Eitelkeit und Völlerei), eine Taube (Liebe, Demut, Arglosigkeit), ein Schwan (Tapferkeit, aber auch Hochmut), ein Stier (Fruchtbarkeit, Standhaftigkeit), ein Pferd (Stolz) und eine Fülle christlich-antiker Symbole inmitten üppiger Vegetation spielen vor zinnoberrotem Hintergrund. Viele sind mythologische Elemente oder Fruchtbarkeitssymbole, ein biblisches Motiv wird man hier vergeblich suchen. Mein einziges Verlangen ist die allegorische Darstellung des sechsten Sinnes, der als jene Intuition oder Klugheit gedeutet wird, die aus der tiefgründigen Kultivierung, vielmehr Verfeinerung der fünf Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken – erwächst.
Das Ensemble von sechs Wandteppichen wurde um 1500 von Antoine Le Viste in Auftrag gegeben. War Die Dame mit dem Einhorn schlicht eine Hochzeitsgabe für Le Vistes zweite Frau oder die Verherrlichung der Hocharistokratie, zu der er aufstrebte? Weit wahrscheinlicher ist, dass Richard de Fournivals Le bestiaire d’amour das erste weltliche Bestiarium, das die Liebe Fournivals zu einer Dame allegorisch darstellte und die Legenda Aurea des Dominikanermönchs Jacobus de Voragine aus dem Jahre 1298, damals überaus populär und weit verbreitet, Einfluss auf die hohe Symbolkraft der Dame mit dem Einhorn ausübte. Rund 80 erweiterte Druckauflagen der Legenda Aurea erschienen bis 1500 in europäischen Städten.
Die Dame mit dem Einhorn ist ein Meisterwerk von so großer Schönheit und Mein einziges Verlangen von derartiger Strahlkraft, dass man nicht umhin kommt, sich wie George Sand oder Rainer Maria Rilke ehrerbietig davor zu verneigen.
Von Doris Lippitsch