Cluster House Zürich
Fortsetzung: Hunziker-Areal, Zürich
Von Claus Käpplinger
CLUSTER-WOHNUNGEN
Dennoch ist „mehr als wohnen“ keineswegs eine versponnene Grassroot-Bewegung mit wildem Grün und alternativem Selbstbastel-Charme, wie mancher nun leicht annehmen könnte. Überraschend sozial und funktional gemischt ist das Hunziker-Areal mit einem deutlichen Übergewicht junger Zürcher unter 40 Jahren, die hier in sehr unterschiedlichen Wohnformen wohnen können. Von klassischen Single- und Familienwohnungen bis hin zu ungewöhnlichen Cluster-Wohnungen, die bis zu 13 ½ Zimmer und 400 Quadratmeter umfassen können, reicht hier das Spektrum mit deutlichem Übergewicht auf recht große Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern.
Die Cluster-Wohnungen sind etwas Besonderes. Singles oder Paare haben dort Zimmer mit einer Nasszelle, Teeküche und Privatbalkon für sich, aber verfügen zugleich gemeinschaftlich über einen sehr großen Wohn- und Essraum sowie eine Loggia. Ein Angebot, das Singles, Dinks und Patchworkfamilien, aber auch mehrere Interessenten betreuten Wohnens mit Freude aufgenommen und für sich entdeckt haben. Zumal dank des Entgegenkommens von „mehr als wohnen“ hier schon eine Gruppe von drei Personen eine solche Clusterwohnung beziehen konnte, um weitere Mitbewohner innerhalb eines halben Jahres finden zu können und erst dann die volle Miete zahlen zu müssen. Eine Miete, deren Höhe zwischen 4.000 bis 6.000 Franken deutlich unter den üblichen Mietpreisen von Zürich liegt. Menschen mit Behinderungen, Alte und Asylsuchende fanden so ebenfalls im Hunziker-Areal bezahlbare Wohnräume – zumal ein sehr luzides Wohnraum-Management schweizerisch detailliert und streng auf eine ausgewogene soziale Mischung aller Häuser achtete.
Von Wissenschaftlern und leitenden Angestellten bis hin zu Studenten und Arbeitern reicht nun das soziale Spektrum des neuen Stadtquartiers – repräsentativ und zugleich alternativ.
Haus A, Innenansicht / © Foto: Johannes Marburg
QUARTIER DER "DICKEN TYPEN"
Einige Aspekte dieser großen Vielfalt des Hunziker-Areals kann jeder Besucher des Quartiers unschwer entdecken, aber vor Ort fallen vielen Besuchern zuerst vor allem seine ungewöhnlichen Architekturen mit vielen urbanen Zwischenräumen ins Auge. Menschen, weiß und farbig, jung und alt, beleben hier ganz alltäglich mit ihren unterschiedlichen Aktivitäten Gassen und Plätze, wie man es sonst nur von alten Quartieren kennt. Cafés, Restaurants, Läden und Werkstätten von Menschen mit und ohne Handicaps laden zum Verweilen ein, während viele Kinder des Viertels völlig sorglos auf den Plätzen oder im Grün spielen. Nahezu autofrei, aber doch keine Öko-Siedlung mit privatem Abstandsgrün, sondern fünf- bis siebengeschossig hoch bewegt man sich zweifellos in einem Stadtquartier mit viel urbanem Charme.
Möglich machte dies ein selten klares städtebauliches Regelwerk, das aus dem Siegerprojekt des Architekturwettbewerbs von 2009 hervorging, den die Arbeitsgemeinschaft des sehr jungen Zürcher Büros futurafrosch und Duplex Architekten mit Müller Illien Landschaftsarchitekten für sich entscheiden konnte. Ihr Projekt mit Titel „Fellini“, neun keilförmigen Häusern mit großen Gebäudetiefen bis zu 30 Metern überzeugte nicht zuletzt die Jury, da es eine überraschende Brücke von Zürichs Stadtquartieren des 19. Jahrhunderts zur italienischen Moderne des 20. Jahrhunderts anbot. Bewusst orientierten sich die Architekten nicht an den Nachbarn, einer städtebaulichen Wüste überdimensionaler und monofunktionaler Baukomplexen, sondern nahmen sich das Quartier um den kleinen Ida-Platz in Zürichs Westen zum Vorbild, einen verwinkelten Stadtplatz.
Die Tiefe ihrer Häuser mit vielen überraschenden Spalten und Zwischenräumen drängt eher architektonische Vergleiche zu Mailand oder Rom auf, an die „Palazzini“ von Gio Ponti, Giuseppe Terragni oder Mario Ridolfi, wo urbanes Leben nicht nur im Erdgeschoß, sondern auch auf Treppen und Galerien in der Höhe stattfinden kann.
Doch nach dem Wettbewerbsgewinn standen die Architekten vor dem Dilemma, wie die Qualitäten ihres Siegerprojekts auch noch nach der Aufteilung der einzelnen Bauprojekte unter den ersten vier Preisträgern erhalten bleiben könnten. Oder anders formuliert: Wie kann aus den Architekturen unterschiedlicher Architekten ein Raum der Stadt mit urban vielfältigen Funktionen und Aktivitäten hervorgehen? Ihre Strategie? – Ein intensiv geführter Dialog mit allen Beteiligten, aus dem ein Regelwerk mit sechs klaren Spielregeln zur Mantellinie, Substraktion, Fassadengliederung, Nutzungsverteilung und zu den Adressen sowie Akzenten hervorging.
Mit der „Mantellinie“ setzten futurafrosch und Duplex Architekten auf „Dicke Typen“, d.h. auf übergroße, kubische Gebäudevolumina, die bis zu 30 Meter tief und in der Regel 22 Meter hoch sind. Regel N°2 legte fest, dass über den Sockelgeschossen mindestens 12 Prozent jedes Hausvolumens außen und innen beliebig für Lufträume weggeschnitten werden musste, um den Stadtraum mit Rücksprüngen zu beleben und den Wohnungen ausreichend Licht zu verschaffen. Und Regel N°3 verordnete allen Häusern eine klassische Fassadengliederung, die vertikal klar in Sockel-, Schaft- und Dachbereich zu gliedern waren. Regel N°4 und N°5 widmeten sich hingegen allein den bis zu vier Meter hohen Erdgeschoßen. Gemeinschaftliche oder publikumsorientierte Nutzungen waren nur zu den Plätzen, dagegen das Wohnen und die Hauseingänge nur entlang der Gassen erlaubt. Und die letzte Regel schrieb vor, dass sich alle Fassaden zum zentralen Hauptplatz deutlich in ihrer architektonischen Gestaltung von den abgewandten Seiten entlang der Gassen zu unterscheiden haben.
Städtebauliche Dichte und lebendige Fassaden / © Foto: Johannes Marburg
Das Ergebnis? Ein interessantes Spiel mit den vorgegebenen Regeln, die eingehalten wurden, aber doch ganz andere Architekturen hervorbrachten. 13 recht individuelle Häuser, deren Konstruktionen und Silhouetten sehr unterschiedlich sind, aber alle auch mehr oder weniger großzügige und unterschiedlich geschnittene Treppenhäuser und Galerienhöfe besitzen – so urbanes Leben innen und außen sehr verschieden zu verknüpfen versuchen. 13 Häuser entlang nur neun Meter breiter Gassen sowie um zwei Plätze, die große nachbarschaftliche Wahlverwandtschaften entdecken lassen, was trotz aller unterschiedlicher architektonischer Handschriften nun den Zusammenhalt des Quartiers stärkt.
So begnügten sich die beiden mit der Koordination des Projekts befassten Büros futurafrosch und Duplex Architekten mit jeweils nur zwei Häusern. Während je drei Häuser von den weiteren Zürcher Preisträgern Miroslav Šik, pool und Müller Sigrist Architekten gebaut wurden – je zwei in unmittelbarer Nachbarschaft und eines am anderen Ende des Quartiers, um die Zusammenhänge aller Teile über den ganzen Raum des Hunziker-Areals erkennbar zu gestalten. Und wenn es einigen Architekten auch nur wenig gefiel, dass der mit dem Bauen beauftragte Generalunternehmer späterhin auf manche Kosteneinsparung durch Standardisierung etwa der Fenster drängte, so stärkte dies im Kleinen nochmals das angestrebte Erscheinungsbild einer Einheit in der Vielfalt. Dazu steuerten Müller Illien Landschaftsarchitekten eine anregende materielle und vegetabile Gestaltung der Freiräume bei, die bar jeder abstrakten Künstlichkeit ist. Hier und dort erinnern erhalten gebliebene Bodenbeläge an die Vergangenheit des Areals und ergänzen Bäume mit essbarem Obst den interessanten Mix einheimischer Vegetation.
Haus A, Treppenraum / © Foto: Johannes Marburg
ZWIEBELGRUNDRISSE UND TREPPENAKROBATIK
Vor allem zwei Häuser stechen mit ihrer Architektur am stärksten aus dem Ensemble hervor, die beide den größten Platz des Quartiers einrahmen. Das Gästehaus von Sigrist Müller Architekten überrascht zum Platz hin mit einem sehr transparenten Erdgeschoß und einem vertikalen Garten. Über seine breiten Balkonbänder erstreckt sich spielerisch ein vegetabiler Vorhang mehrgeschossiger Pflanzspindeln und -töpfen. Ganz monolithisch, eher gegossen als konstruiert,wirkt hingegen sein Nachbar, der sein Baufeld im Zentrum des Quartiers maximal bis zur „Mantellinie“ ausfüllte. Mit Wandstärken bis zu 80Zentimetern erscheint das Haus von pool Architekten wie eine Skulptur aus rohen Dämmbeton mit überdimensionalen, verglasten Kerben der Erschließung, die sehr tief in den Körper bis zu seinem Kern einschneiden. Während das Haus zum Platz hin mit großen Glasfeldern– dem Computerspiel Tetris nicht unähnlich – aufwartet, die die sehr unterschiedlichen Zuschnitte der Wohnungen teilweise an der Fassade ablesbar gestalten. Denn in ihm befinden sich nicht nur die meisten der Allmendräume der Baugenossenschaft, wie etwa eine Sauna und das wunderbare Informationszentrum des Modellprojekts, sondern auch drei der größten Clusterwohnungen mit 12,5 Zimmern.
Vis-à-vis dieser Betonskulptur erstrecken sich die beiden Zwillingshäuser von Miroslav Šik, dem rebellischen Schöpfer der „Analogen Architektur“, welche bewusst an traditionelle Haustypologien anknüpft, um diese strukturell für zeitgenössische Nutzungen zu transformieren. Seine Hausfassaden im Hunziker-Areal evozieren mit ihren Loggien, hellen Pastelltönen und breiten weißen Fenstergewänden am stärksten die italienische Moderne der Zwischenkriegszeit im Quartier, während man sich in den verwinkelten Galeriehöfen im Innern seiner Häuser leicht nach Neapel oder Rom versetzt fühlen kann.
Doch die Grundrisse seiner Wohnungen stehen ganz in der Tradition großbürgerlichen Wohnens in Prag und Wien. Über eine breite Wohndiele gelangt man so bei Šik stets diagonal ins zentrale Wohn-Esszimmer mit Küche und Loggia, während sich alle Individualräume höchst pragmatisch entlang eines langen Flurs aufreihen.
Den augenfälligen architektonischen Unterschieden der 13 Häuser zum Trotz fanden die meisten Architekten auf die Herausforderungen der „Dicken Typen“ doch strukturell sehr verwandte Organisationsmuster mit einer „rue intérieure“, die mehrere Treppenhäuser und Atrien miteinander verbindet. Rund um die Erschließung liegen so zumeist alle Nebenräume der Wohnungen, die wenig oder kein Licht benötigen, wie Wohnungseingang, Küche und Bad, die sich wiederkehrend zu den Höfen überraschend transparent orientieren, während die Wohnräume entlang der Außenwände positioniert sind. Wie Zwiebelschichten bauen sich so die Grundrisse der meisten Häuser auf, welche die nutzungsintensiveren Wohnbereiche nach Außen zum Tageslicht und die minder genutzten Bereiche zu den Höfen positionieren.
Haus M, Innenansichten / Foto: © Duplex Architekten
DUPLEX ARCHITEKTEN
Eines der schönsten Häuser gelang Anne Kaestle und Dan Schürch von Duplex Architekten am Ende des Quartiers zum großen Park hin, das dem berühmten, vertikal gestapelten Schulhaus Leutschenbach von Christian Kerez gegenüberliegt. Außen die Mantellinie völlig füllend, entstand im Inneren der Genossenschaftstrasse 18 ein 130 Quadratmeter großes tageslichthelles Atrium, dessen diagonale Geometrie und Treppenakrobatik dezidiert zum Verweilen und Kommunizieren einlädt.
Ein Raum, der den Gegensatz von Innen und Außen völlig gegenstandslos macht und den Nebenräumen ebenso viel Tageslicht wie den Wohnräumen entlang der Außenseiten schenkt. „Ein Piranesi, nicht nur gezeichnet, sondern gebaut“, nennt Dan Schürch diesen Raum, an dem neben vielen Wohnungen auch eine Kinderkrippe und Heilschule liegen. Und auch konstruktiv überzeugt das Haus, dessen Einsteinmauerwerk ohne Wärmedämmung 2016 mit dem Wienerberger Brick Award und 2014 mit dem Deubau Preis ausgezeichnet wurden.
Auch die weiteren Häuser bieten durchwegs sehr überraschende architektonische Lösungen. Etwa das Haus am Dialogweg 11, wo der leider 2014 viel zu früh verstorbene und hoch talentierte Peter Sigrist mit seinem Partner Pascal Müller ein Haus mit überhohen, übereinander gestapelten Splitlevel-Kleinwohnungen baute, das nun am Eingang zum Areal die Besucher heftig über die Zahl seiner Geschosse rätseln lässt. An den Ecken vermeint man fünf, in seiner Fassadenmitte jedoch sieben Geschosse zu erkennen. Dort befindet sich nicht nur das sympathische Asyl-Restaurant, sondern auch „Hombis Salon“ des Opernsängers Christoph Homberger, der Kulinarik mit Gesang verbindet, abends Gäste bekocht und tagsüber Kindern Essen und klassische Musik nahe bringt. Oder über das schindelgedeckte, zweite Haus von pool Architekten, das hinter ihrem Betonmonolithen farbenfroh mit einem hohen Gemeinschaftswintergarten in luftiger Höhe aufwartet, dessen betont einfache Konstruktion durchaus als Hommage an Lacaton & Vassal verstanden werden kann.
Das Hunziker-Areal lädt so zu vielen Entdeckungen ein, dessen Häuser den Besuchern überraschend offen stehen, die derzeit noch problemlos durch ihre faszinierenden Wohnatrien wandeln können. Stets passiert hier etwas, wo die Kunst im Stadtraum auch ganz programmatisch „mehr als kunst“ ist und beispielsweise auch zum Löschen seines Durstes einlädt. Während andere zeitgenössische Stadterweiterungen sich spätestens abends völlig von Menschen entleert zeigen, ist hier der zentrale Platz des Quartiers dank urbaner Nutzungen der Erdgeschoße stets belebt. Wofür es aber auch besonderer Anstrengungen bedurfte, um für die 6.000 qm Gewerbeflächen möglichst vielfältige Mieter zu finden. 180 Millionen Franken investierten Zürichs Baugenossenschaften in das Projekt, um ein wirklich beispielhaftes Stadtquartier neu zu schaffen. Ihr Wagemut hat sich gelohnt. Und ein letztes Aperçu des Projekts ist die weise Entscheidung, dass man vorläufig auf den Bau des 14. Hauses verzichtet, um späterhin noch flexibel auf die weitere Entwicklung des Quartiers und neue Nutzungswünsche reagieren zu können und zu ergänzen, was eventuell noch fehlt.