Die weisse Klinge, die in die Strasse schneidet

Ein Lokalaugenschein von Daniel Grünkranz.

Ein modernes Kräftefeld

1884 entwickelte der Architekt und Gemeindetechniker Cesare Beruto die erste umfassende Planung für die zukünftige Stadtstruktur Mailands. Die lombardische Hauptstadt war eben dabei zum wirtschaftlichen und industriellen Zentrum Italiens aufzusteigen. Der Beruto-Plan wurde nach Überarbeitung durch eine Kommission unter Führung des Kunststofffabrikanten Giovanni Pirelli 1889 zur Umsetzung freigegeben. Mailand sollte konzentrisch in das Umland erweitert werden. Geradlinige Achsen durchschnitten das Gassengeflecht des historischen Stadtkerns und schufen neue Verbindungen. Die Industrie konnte nun außerhalb der Stadtmauern expandieren, während Finanz- und Handelssektor das Zentrum prägten.

Fasci italiani di combattimento

Die wachsende Industrialisierung und Urbanisierung Mailands sowie der stetige Bevölkerungszuwachs riefen Spannungen hervor, wiederholt kam es zu Unruhen. Die faschistische Bewegung wurde in der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg in Mailand unter Beteiligung von Benito Mussolini in den Fasci italiani di combattimento organisiert. 1922 führte er die Nationale Faschistische Partei, die Partito Nazionale Fascista, in Italien an die Macht. Urbane Netzwerke Die Faschisten besetzten in der Stadt markante Stellen mit lokalen Parteihauptquartieren – den case del fascio. Mit dem Fall des faschistischen Regimes büßten die case del fascio ihre Netzwerkrolle ein, mit der die Partei sich in der Stadt etablierte. Systeme einer modernen kapitalistischen Großstadt lösten diese Bedeutungshoheit ab. Seit den 1930ern prägen Hochhausbauten, die torri oder grattacieli, das urbane Leben und den Charakter Mailands. Mit der Einrichtung des Geschäftsviertels Centro Direzionale erlebte Mailand in den 1950er und 60er Jahren einen Hochhausboom. Auch aktuell transformieren eine Reihe neuer Wohn- und Bürotürme das Stadtbild wie der mächtige UniCredit Tower im Stadtzentrum. Im Gegensatz dazu verbinden die beiden Wohntürme Bosco Verticale architektonische und ökologische Agenden in einer Art Hyper-Architektur. Mit den Hochhausbauten entsteht ein zusehends dichteres Beziehungsgeflecht zwischen Türmen und Stadt. Das Netzwerk an Straßen und Plätzen gibt immer wieder Blickpunkte auf die Türme frei und fängt sie wie Spinnennetze in Sichtbeziehungen. Diese Vielfältigkeit, die durch einen ausgedehnten Streifzug erlebbar wird, bleibt ein Merkmal Mailands. Sie ist Ausdruck ihrer bewegten modernen Geschichte. // Die symbolische Bedeutung der Stadt für die Bewegung und Partei verlieh Mailand einen besonderen Status: Sie war Zentrum ihrer Administration und Propaganda.

"Vorbei an den reich dekorierten Häusern der Bourgeoisie am Corso Italia, tritt plötzlich ein schmaler Gebäudeteil hervor, der wie eine weiße Klinge durch den Häuserblock und in die Straße schneidet. Er gehärt zu einem Büro- und Wohnkomplex, geplant von Luigi Moretti und errichtet in den 1950er Jahren. Das Gebäude beeindruckt nicht nur durch sein Design."

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