FREITAG - Schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf dem Seziertisch

Mit dieser Metapher beschwört der französische Dichter Isidore Lucien Ducasse,­ besser bekannt unter Lautréamont, die außergewöhnliche Schönheit eines ­Jünglings. In seinem bahnbrechenden Oeuvre „Die Gesänge des Maldoror“ aus dem Jahre 1874 sprengt er mit seiner gewaltigen Bilderwelt alle bisherigen (literarischen) ­Konventionen. Was von Lautréamont als zufälliges Zusammentreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm beschrieben wird, findet über hundert Jahre ­später seine konkrete Anwendung mit wasserfesten Lastwagenplanen. Zu schön, um wahr zu sein: FREITAG Taschen aus Zürich – freeway-bags made in Switzer­land.

von DORIS LIPPITSCH

Begonnen hatte alles in einer Wohngemeinschaft anno 1993. Die Wohnung lag an der Transitstrecke Deutschland–Italien, „die das auf den ersten Blick malerische Zürich durchschneidet wie eine Motorsäge die Zuckerbäckertorte“, erinnert sich Oliver Gemperle, 42, der mit den Brüdern Markus, 44, und Daniel Freitag, 43, die laute Wohnung teilte. Das Haus wurde von den LKWs durch beständiges Beben erschüttert, die Wände hatten Risse, und in tellergroßen Stücken blätterte der Verputz von der Zimmerdecke. Dennoch mochten sie diese Wohnung. Das, was Gemperle sein Leben dann aber vollends zur Hölle machen sollte, war eine neue Idee von Dekorationsgestalter Markus und Grafikdesigner Daniel. Markus wollte eine regenfeste Tasche haben, um Entwürfe und Zeichnungen bei jeder Wetterlage transportieren zu können. Dafür wurde der tosende Transitverkehr nun auch regelrecht in die 80 m2 große Wohnung verlegt.

Schön und vielfältig wie ausgediente Lastwagenplanen und Autowracks
Markus spannte einen Anhänger an sein Velo und fuhr in das nahe Industriegebiet, um mit einer LKW-Plane zurückzukehren, die er in das 5. Stockwerk in die Wohnung schleppte und in der Badewanne sauber schrubbte. In seinem Zimmer breitete er seinen Fund dann zwischen Matratze und Stereoanlage aus und begann, auf der Plane ein Schnittmuster für seine erste eigene Kuriertasche zu zeichnen. Schnell stapelten sich mehr und mehr LKW-Planen im beißend schwarzen, nach Plastik riechenden Wasser in der WG-Badewanne, ausgediente Fahrradschläuche und Autogurte im Vorhaus, Dinge, die Markus auf Schrottplätzen aus Autowracks schnitt und in ein zweites Leben rettete. Der Esstisch wurde durch eine frühindustrielle Nähmaschine ersetzt, die „jedes Straßengeräusch noch übertönte“, ergänzt Gemperle und fährt fort, lachend über die Anfänge zu berichten: „Als die Produktion der zweiten Serie in höherer Stückzahl anlief, hatte mich der Schwerverkehr vollends umzingelt.“ Markus' Bruder Daniel assistierte damals einem Fotografen, der für Apple ­arbeitete und hatte die ­Ur-Tasche einem der „wildesten“ Fahrradkuriere von San Francisco zum Härtetest übergeben. Und sie bestand den Test.

Gebrauchte Planen sind keine Meterware, aus der man einfach seine Taschenteile schnipseln kann. Sie sind mit Schnallen, Gurten und Ösen verstärkt, die auf den Zerlegtischen entfernt werden müssen. ©Fotos: Joël TettamantiGebrauchte Planen sind keine Meterware, aus der man einfach seine Taschenteile schnipseln kann. Sie sind mit Schnallen, Gurten und Ösen verstärkt, die auf den Zerlegtischen entfernt werden müssen.


An den ersten hundert Taschen nähte sich Markus noch die Finger wund. Keine Tasche gleicht einer anderen. Die Schnittmuster werden in Form von Schablonen auf den mit Werbung und Logos bedruckten Planen platziert, so dass immer neue Modelle mit verschiedenen Farben, Formen und Buchstaben entstehen.

Kaum aus den USA zurück in Zürich, installierte Daniel einen Apple im letzten freien Winkel der Wohnung und übernahm die Logistik - Lieferscheine, Rechnungen und Adressverwaltung. Die Taschenmanufaktur FREITAG war geboren. Nähmaschine und Drucker ratterten meist die ganze Nacht.

Form follows Fiction
Nach und nach wurde auch in nahen Ateliers, die alle in kurzen Wegen, zu Fuß oder mit dem Velo, zu erreichen waren, konfektioniert. Nach zehn Jahren siedelte die FREITAG-Manufaktur in die 2.800 m2 großen Räumlichkeiten der ehemaligen Zahnräderfabrik Maag an der Hardbrücke. Dort wurden die Planen auf dem Boden ausgerollt und Ösen, kaputte Stellen und Gurte entfernt und die Planen sodann gereinigt. Der FREITAG-Turm, ein Stapelhaus aus Containern, wurde auf dem Areal errichtet, heute der Flagship-Store made in Switzerland. Ein postmodernes Bauwerk, das die Geschichte von FREITAG erzählt, sich dabei bloßer Funktionalität entzieht und Formsprache als „Sammlung von Möglichkeiten“ vergegenwärtigt, die mit dem Containerturm buchstäblich gestapelt werden. Baukonzept wie Fassade werden zum Bedeutungsträger eines Zürcher Areals, der bestimmt in keine Schublade passt. Zürich war damals dabei, sich neu zu definieren und gleichwohl sich mit Raves an den „hippsten Orten“ und für Creative Industries zu öffnen. Mit der deutlich gewachsenen Pluralität an Denk- und Handlungsmöglichkeiten wird so der Ensemble-Gedanke - der stilistische Ausdruck der Globalisierung - in der postindustriellen Gesellschaft vorweggenommen. Nicht mehr Form follows function sondern Form follows fiction lautet das Credo!
 

Ausbreiten und Zerlegen der Planen ©Fotos: Joël Tettamanti Waschen der Planen ©Fotos: Joël Tettamanti

Ausbreiten und Zerlegen der Planen; Waschen der Planen

Planen-Bits and Bytes amZerlegtisch
Heute, wiederum zehn Jahre später, ist die weltweit gefragte Marke FREITAG auf einer Nutzfläche von 7.500 m2 im (sogenannten) NOERD-Gebäude in Zürich-Oerlikon zu ­Hause. Auf dem Industrieareal tummeln sich Kreative, ausgesprochene Planen-Nerds. Hier wird die FREITAG-Tasche produziert: von 130 (von insgesamt 170) Gebissenen mit stetigen Planen-Transfer-Bits und Bytes über mehreren Ebenen im Werksgebäude. Die ökologischen Anforderungen an die Produktion sind hier hoch: „Wir sehen uns weniger als Taschenhersteller, denn als nachhaltiges Familienunternehmen. Wir sind eine durch und durch urbane Marke und geben ­gebrauchten Materialien ein nächstes Leben“, hält Elisabeth Isenegger, die seit nunmehr drei Jahren für FREITAG arbeitet und durch die Produktionshallen führt, fest. Hier werden die Lastwagenplanen gestapelt und gelagert - FREITAGs Lebensversicherung - auf meterlangen Zerlegtischen auf ihre Qualität geprüft und mit Industriewaschmaschinen bei 65°C schonend gewaschen. - Dies mit Regenwasser, das in einem unterirdischen Tank gesammelt wird - rund vier Millionen Liter pro Jahr für 440 Tonnen Planen. Von dort wird das Wasser in die eigens angefertigte Waschanlage geleitet. Nach dem Waschgang wird dem schmutzigen Wasser mittels eines Wärmetauschers noch die Wärme entzogen und damit anschließend das frische, kalte Regenwasser  für den nächsten Waschgang auf die entsprechende Temperatur gebracht. Nach dem Reinigen werden die Planen getrocknet und über Schienen auf einen Tisch transportiert und für die jeweilige Serie fotodokumentiert. Von dort werden sie in Rollen den „Bag Designern“ übergeben, die - je nach Serie und Konfektion - die verschiedenen Schnittmuster bis heute mit scharfen Cuttern aus den Planen schneiden. Genäht wird de facto nicht mehr in der Schweiz, für einzelne Serien noch in drei kleinen Nähereien - in Werkstätten für Menschen mit Behinderung und ausgrenzungsgefährdete Jugendliche, die über berufliche Integration auf die Wiedereingliederung vorbereitet werden sollen. Die Nähmaschinen rattern heute vor allem in Frankreich, Portugal, Tschechien, Tunesien und neuerdings auch in Bulgarien, von wo die fertigen Produkte nach rund vier Wochen wieder nach Zürich-Oerlikon geliefert und von dort weltweit zu den zehn FREITAG Stores transportiert und an die 470 Wiederverkäufer verteilt werden.
 

Saubere Planenrollen ©Fotos: Joël Tettamanti Zuschneiden der Planen für FREITAG-Taschen ©Fotos: Joël Tettamanti

Saubere Planenrollen; Zuschneiden der Planen für FREITA-Taschen

Die fundamentale Dreifaltigkeit
Die Reste, die bei der Fertigung anfallen - Planenteile oder Metall - werden nochmals sortiert und recycelt. FREITAG denkt und handelt in Kreisläufen, eben nachhaltig. FREITAG kennt weder Ausstiegsszenario noch Fremdkapital. Alle anfallenden Reste werden, wann immer möglich, nach der Produktion einer weiteren Nutzung zugeführt. Das Vinyloop Werk Ferrari in der Nähe von Lyon verarbeitet zum Beispiel die Restplanen im Texyloop-Verfahren zu Kunststoff-Granulat für die Bauindustrie.

Freilich ist es heute nicht mehr so, dass FREITAG die Lastwagenplanen wie in den Anfängen von den Transportunternehmen überlassen werden. Heute bezahlt FREITAG das gebrauchte Planenmaterial, je nach Farbe und Qualität. Witterungsbedingt werden Lastwagenplanen alle fünf bis acht Jahre ausgetauscht. Sie sind die Grundlage für die FREITAG Tasche, die heute in die Fundamentals-Linie  - dazu gehören die klassischen Kuriertaschen - und in die Reference-Linie unterteilt sind. 400.000 FREITAG Taschen, rund 50 verschiedene Modelle, und Accessoire-Unikate wie Schutzhüllen für iPhone, Smartphone oder MacBooks werden jährlich vertrieben. FREITAG ist und bleibt ein Familienunternehmen und jeder Mitarbeiter eine tragende Stütze.

Von den Brainworkers zu der zu allen Unzeiten Bereiten
„Ohne Mut geht einfach gar nichts“, davon kann Markus Freitag wahrlich ein Lied singen. „Prägend war einerseits eine Reise mit unseren Eltern nach Indien, wo wir erlebt haben, dass aus der Not heraus jede Art von Abfall in irgendeiner Form weiterverwertet wurde, und dann andererseits die Berufslehre als Dekorationsgestalter und damit je nach Auftragslage die Erfahrung einer ständigen Berg- und Talfahrt“, erzählt Markus, „es waren viele kleine Schritte bis hin zu FREITAG.“ In der Kindheit in den 1970ern war erstmals von Waldsterben, von saurem Regen die Rede, und mit dem Komposthaufen im Familiengarten in Meilen wuchs mit den Nährstoffen alles einfach sichtbar besser. Abfall gleich Nährstoffe, eine einfache Rechnung.

Abfall konnte also nur gut sein. Wie recycelter Müll, der in seine einzelnen Rohmaterialien zurück- und einer neuen Nutzung zugeführt werden kann.

Es war wiederum ein Franzose, Philosoph Jean-François Lyotard, der den Begriff der Postmoderne schon in den 1970ern als Spiegel der abendländischen Gesellschaft, Kultur und Kunst „nach“ der Moderne prägte. Eine kritische Denkrichtung, die bestimmten ­Institutionen und Grundhaltungen die ­Möglichkeit einer Vielfalt an bestehenden und neuen Perspektiven gegenübergestellt. Die da beispielsweise heißen: ROY-das mobile Großraumbüro, Co-Brainworkers, die fundamentale Dreifaltigkeit oder Ottendorfer, die zu allen Unzeiten Bereite! „So fest die Pünktlichkeit in unserer helvetischen DNA auch verankert sein mag, müssen wir zugeben: Wir sind (immer) zehn Jahre zu spät“, resümiert Markus schmunzelnd. Alle FREITAG-Taschen haben eine zigtausend kilometerlange Vorgeschichte auf den Straßen Europas zu erzählen. Taschen mit Patina auf dem Rücken, aber mit mehreren Leben.

Fotos: Joël Tettamanti