Die Dunkelkammer Europas

Bogdan Bogdanović hatte ich oft in seiner Wohnung in der Wiener Davidgasse besucht. Nie vor 16 Uhr, er zeichnete oft die ganze Nacht und stand gerne auch erst um diese Zeit auf. Einmal kam er mir im Morgenmantel und mit Gehstock entgegen. Seine Zeichnungen waren überall ausgebreitet, aus Mappen als lose Blätter sortiert oder zu Serien gebündelt. Er interpretierte sie nicht. Das überließ er gerne anderen. Oft waren Monster darauf zu sehen, wiewohl er stets betonte, „gute, aber auch böse Monster“. Unsere Gespräche dauerten oft bis Mitternacht, bis alle müde waren.

von DORIS LIPPITSCH
 

Sie zeichnen mit Graphitstiften?
Bogdan Bogdanović: Ja, ich brauche diesen Stift in meiner Hand und auch diese Konturen, die unter meiner Hand entstehen. Oft überarbeite ich meine Zeichnungen, radiere Formen aus und überzeichne sie, immer wieder. Ich bin Zeichner und Architekt. Viele Zeichnungen habe ich weggeworfen, wenn ich zu keiner Lösung finden konnte.
(BB macht eine Geste, die darauf schließen lässt, dass er immer wieder an einem Punkt ankommt, wo er sich von einer Zeichnung trennt.)

Was ist auf den aktuellen Serien zu sehen?
Das, was aus mir zeichnet, meine Hand zeichnet. Immer wieder Monster. Ich weiß nicht, was ich zeichne. Aber es sind in den letzten Jahren oft Monster, liebe und weniger gute, auch böse Monster.

Bogdan Bogdanovic: Slobodiste Nekropole ©Architekturzentrum Wien

Bogdan Bogdanović: Slobodiste Nekropole; Architekturzentrum Wien

Bei dem Maler Petar Dobrovic sollte ich in meiner Jugend Akte zeichnen. Zwei Semester lang. Etwas, das es schon gibt. Ein Modell. Das hatte aus meiner Sicht keine Essenz und kein Temperament. Er hat mich für meine weichen Formen verspottet und meinte nur abfällig: Weich ist Scheiß’! Was für ein Trauma. Schon in dieser Zeit zeichnete sich ab, dass ich kein Maler werden würde. Ich wollte das zeichnen, was ich imaginierte. Eine Zeichnung sollte immer auch eine Erfindung sein. Meine Großmutter hatte noch jene alten Metallbetten, deren Stäbe ich angekritzelt habe. Das hat mir Spaß gemacht und entspricht zugleich meiner Logik der Phantasie.

 

Memorial in Čačak, Serbien ©Foto: Friedrich Achleitner
Memorial in Čačak, Serbien; Foto: Friedrich Achleitner
Bogdan Bogdanović in jungen Jahren, Belgrad; Bogdan Bogdanović mit Ksenija; Fotos: Familienarchiv
Bogdan Bogdanovic in jungen Jahren, Belgrad ©Fotos: Familienarchiv
Bogdan Bogdanovic mit Ksenija ©Fotos: Familienarchiv

 

Arbeiten Sie an mehreren Zeichnungen zugleich?
Nie, immer nur an einer Zeichnung.

Wann ist eine Zeichnung missraten?
Wenn sie zu pathetisch ist und die Formen viel zu sehr schreien. Entscheidend ist das stilistische Element. Es betrifft die Expressivität, den Ausdruck einer Form. Ironie sollte immer über Sarkasmus siegen, nicht umgekehrt. Das ist mir mit der einen oder anderen Zeichnung nicht gelungen. Die Leichtigkeit muss trotz aller Spontaneität gegeben sein, ohne übertrieben zu wirken. Oft wird in den Zeichnungen ein Konflikt zwischen Erhabenem und Groteskem ausgetragen (...) Es ist letztendlich so: Was sagt die Zeichnung dem Zeichner? Bei Texten und Zeichnungen geht es immer darum: Was will das Werk sagen? Und nicht umgekehrt, was will der Autor. Diese Erfahrung mache ich jedes Mal aufs Neue.

Entstehen die Formen und Figuren auf dem Papier schnell oder in einem langen Prozess?
Es fließt hinauf, bergauf, und wird über die Hand aufs Papier gebracht. Jede Nacht. Einerseits ist da eine Vorstellung, die auf das Papier gebracht werden soll, und dann wiederum stelle ich immer wieder fest, dass die Hand etwas anderes macht. Dabei lerne ich immer wieder aufs Neue, auf meine Hand zu hören. Das ist ein Prozess, der mehr oder weniger lange dauert. Dazwischen wird radiert, eine Form, eine Figur verworfen und eine neue begonnen. Ich bin mir sicher, dass nicht eine einzige Zeichnung ursprünglich so geplant war.

 

Kenotaphe Bihać, Bosnien-Herzegowina ©Foto: Friedrich Achleitner Kenotaphe Bihać, Bosnien-Herzegowina ©Foto: Friedrich Achleitner

  Kenotaphe Bihać, Bosnien-Herzegowina; Fotos: Friedrich Achleitner

Ist der Graphitstift wie ein Meißel in Ihrer Hand?
Ja, der Zeichenstift ermöglicht mir, Hartes unter der Hand zu spüren. Wenn ich dieses Gefühl nicht habe, kann ich nicht zeichnen. Das brauche ich. Ebenso wichtig aber ist, dass die Zeichnungen immer auch ein Zufallsspiel sind, was natürlich sehr schön ist. Interessant wird es für mich, wenn es mir gelingt, mein Imaginiertes auf das Papier zu bringen. Dann entstehen entspannte Zeichnungen. Formen beginnen dann zu leben, wenn sie nicht nur abbilden, was es in der Natur schon gibt. Nämlich genau dann, wenn das Imaginierte auf meine Hand trifft, die es abbildet.

Für den Schritt von der Imagination auf das Papier braucht man Fingerfertigkeit, sprich eine Technik.
Eine erlernte Technik war für mich immer sekundär. Die Aktstunden waren für mich eine einzige Qual (...) Technik interessiert mich immer nur in statu nascendi, wenn sie dabei ist zu werden. Aus diesem Zustand kann plötzlich etwas ganz Anderes entstehen, wie ich in meinen Zeichnungen immer wieder feststelle.

Kein Professor oder Zeichenlehrer konnte Ihnen also die Lust nehmen, Ihre Ideen auf Papier zu bringen?
Lange war mir nicht bewusst, dass ich phantasiebegabt bin. Das habe ich erst viel später verstanden. Der Schöpfer ist immer auch ein infantiler Mensch. Schauspieler konnte ich deshalb nicht werden, weil ich immer ein schlechtes Gedächtnis hatte. Aber ein guter Professor sollte immer auch ein guter Schauspieler sein. Wichtig ist, dass das Leben ein Spiel sein kann.

Wer also hat das Zeichnen gefördert?
Eigentlich niemand so recht. Mein Vater war alles andere als ein Zeichner und hatte keinen Blick für das Bild. Er konnte malerische Werke nicht verstehen und war geradezu ein Feind des Bildlichen. Dafür hatte er keine Geduld, er war ein hervorragender Rhetoriker und Übersetzer aus dem Französischen. Inhalte hat er sehr gut zusammengefasst. (Ksenija Bogdanović nickt mit dem Kopf und erzählt über Bogdans ­Vater.) Anders war da meine Mutter. Ihr Gefühl etwa für asymmetrische Formen und Schnitte war ausgeprägt. Ich hatte zudem einen entfernten Verwandten, der verrückt war und oft schaurige Geschichten erzählte. Er hat wunderbar gezeichnet und war später jemand, der als serbischer Tschetnik an die 20 Partisanen regelrecht abgeschlachtet hat. Er war sich seiner Schrecklichkeit aber nicht bewusst und paranoid. In seiner Jugend war er freiwillig im Zweiten Weltkrieg. Zu diesem Zeitpunkt explodierte in ihm wohl ein sadistischer Komplex mit einem stark destruktiven Trieb, der vielleicht auch in die Kunst führen kann. Wer weiß. Auch meine Zeichnungen gehorchen einem Trieb.

 

KZ-Gedenkstätte für NS-Opfer, Jasenovac, Kroatien ©Foto: Friedrich Achleitner Steinerne Blume Jasenovac ©Foto: Friedrich Achleitner

Links: KZ-Gedenkstätte für NS-Opfer, Jasenovac, Kroatien; rechts: Steinerne Blume Jasenovac; Fotos: Friedrich Achleitner

Einer inneren Notwendigkeit?

Ja, wichtig sind Konzentration und Geduld (...) Zeichnen ist untrennbar mit Erzählen verbunden. Die Narration drängt sich von selbst auf. Das sind oft Explosionen an Phantasie. Mein ganzes Œuvre ist eine Symbol- und Zeichensprache. Nie wollte ich erklären, was es ist. Es ist das, was es ist. Und immer war ich für das Spiel. Dazu gehört natürlich auch der Bruch mit der Perspektive. Die größte Sammlung meiner Zeichnungen befindet sich auf den Steinen.

Ihren Memorialstätten im sozialistischen Jugoslawien, die oft wie Überreste einer uralten Zivilisation wirken?
Ja, an Ort und Stelle habe ich gezeichnet, oft mit dem Stein gezeichnet, Formen und Figuren mit Tusche aufgetragen. Danach wurde der Stein aufgemacht und behandelt. Die Steinmetze kamen immer aus der Region, in der sich eine Stätte befindet. Wichtig war mir, authentische Leute um mich zu haben, die Ehrfurcht und eine spirituelle Beziehung zum Stein haben. Ein Teil der Urheberschaft kommt ihnen zu. Wenn die Zeichnungen aber nicht gut waren, haben Schulkinder sie mit Wasser ausgewaschen. Ich hatte oft eine Eskorte an Kindern bei mir. So hatte ich die Genugtuung, dass es immer auch eine Gruppenarbeit war. Die Memorialstätten stellen ja auch eine Art Unterhaltung dar. Sie erzählen Geschichten an historischen Orten, an denen Menschen hingerichtet worden sind. „Unterhaltung“ ist aber ein grobes Wort, im weitesten Sinne des Begriffs aber durchaus zutreffend. Diese Stätten sprechen abstrakt vom Krieg, betonen aber nie die damit verbundenen Gräueltaten. Viele Menschen haben die Memorials nicht verstanden. Heute dienen die meisten von denen, die den Krieg überlebt haben, Kindern zum Spielen. Einige wurden paradoxerweise von Serben zerstört, wie etwa in Vukovar, das für serbische Opfer gebaut wurde. Mehr kann ich dazu nicht sagen (Anm. Gedenkpark Dudik für die Opfer des Faschismus, Vukovar Kroatien).

Ein Beispiel für eine abstrakte, auf Stein erzählte Geschichte?
Die Memorialstätte in Ivangrad/Berane, Montenegro, erzählt die Chronik der serbischen Bevölkerung seit dem Mönch Pajsije, einer historischen Persönlichkeit im Mittelalter, bis zum Befreiungskampf im Zweiten Weltkrieg auf Stelen aus Granit, die einen Kegel umgeben. Der 20-seitenlange Text sollte eingraviert werden (...)

Die Piktogramme zeigen eine Interpretation dieser Vorlage mit Feuervögeln und Frauen in volkstümlichen Kleidern mit Bändern und Schmuck. Die Figuren sind weibliche Symbole. Diese Schrift war so kompliziert, dass man sie nicht lesen und verstehen konnte. Viele waren empört. Das hat sehr lange gedauert.

Wie bewahrt man Humor, Sinn für Spiel und Phantasie, auch nach erlebten Kriegen?
Das ist eine dramatische Frage. Alles, was ich je gemacht, gebaut, geschrieben oder gezeichnet habe, ist in eine imaginäre Realität projiziert. Die Realität war immer eine andere, so auch in Rumänien in Zeiten seines  harten Stalinismus.

Wie haben die Auftraggeber auf Ihre Arbeiten reagiert?
Im sozialistischen Jugoslawien hatten fast alle Bildhauer sowjetische Vorbilder und wenig von Kunst verstanden, auch Politiker nicht. Dadurch hatte ich große Freiheit. Kaum brach ein Krieg aus, wurden überall die Generäle aus beiden Weltkriegen angebracht, auch in Fleischhauereien. Zwischen Fleisch und Tomaten als Abbild des Spießbürgertums unserer Geschichte. Das nenne ich die pro-russische Schizophrenie oder Verrücktheit. Von Russen haben Serben nie Gutes erhalten, hielten sie aber immer für Verbündete. So auch der Einfluss der sturen russischen Orthodoxie, die alles ausgrenzte, was ihr nicht gefiel, etwa heidnische, slawische Rituale – die Slave. Glauben und Nationalität wurden im 20. Jahrhundert eng miteinander verbunden. Vielleicht verdeutlicht diese strenge Religionsführung, klimatisch bedingt, eine permanente Angst vor höheren Gewalten.

Memorial für Opfer des Faschismus, Travnik, Bosnien-Herzegowina ©Foto: Friedrich Achleitner
Memorial für Opfer des Faschismus, Travnik, Bosnien-Herzegowina; Foto: Friedrich Achleitner

Wie sehen Sie die Zukunft im Kosovo?

Das Kosovo ist abgeschlossen, schon seit Jahrhunderten. Serben siedelten nach und nach ab. Die Kosovo-Debatte ist aufgezwungen und der Kosovo-Mythos falsch. Und: Der Konflikt ist nicht lösbar. Das Provisorium Balkan ist nicht neu. Laut Bismarck sollten beim Berliner Kongress 1878 die Grenzen neu gezogen und eine Friedensordnung für Südosteuropa ausgehandelt werden, bis jemandem einfiel: Wir haben die Albaner vergessen! Alle Großmächte waren an diesem Spiel beteiligt. Bismarck sagte: Es gibt keine Albaner! Das Kosovo war durch die lange osmanische Herrschaft immer ein Konglomerat. Zwangsassimilierungen wurden unter Verzicht auf die Kopfsteuer durchgeführt und die Bevölkerung nach und nach islamisiert. Credo war: Mischt Euch nicht in Politik ein, wir führen Kriege, ihr bestellt die Landwirtschaft. Bleibt, was Ihr seid, Bauern. Und Ihr werdet bestehen! Auch die letzten Serben werden Kosovo verlassen. Nach der Schlacht am Amselfeld vergaßen sie, dass sie es freiwillig aufgegeben hatten. Wäre da nicht immer wieder die fixe Idee: Da, wo der Serbe hintritt, ist serbischer Boden! Dabei vergessen sie, dass dieser Boden Kosovos fruchtlos ist und auf einer Meereshöhe von 500-600 Metern liegt. Sie haben längst die Voj­vodina, eine der reichsten Regionen Serbiens, eingenommen.

Vor hundert Jahren gab es viele regionale Kriege. Nur die Kriegsführung hat sich im 20. Jahrhundert geändert. Menschen aber nicht. Der Mensch ist eine falsche Kreation, weil er durch Gefühle wie Liebe und Hass angetrieben wird. Die Lösung ist Aussöhnung. Menschen verschiedener Religionen und ethnischer Herkunft werden sich wieder näher kommen. Es gibt so viele hübsche Frauen und Männer. Unsere Zukunft kann nur mit komplexen Vielvölkerstädten und -staaten funktionieren. Das, was Serbien braucht, ist die Jetztzeit. Es braucht moderne Gedanken: Europa.

Das künstlerische Schaffen als schmale Gratwanderung zwischen Realität, Wahnsinn und Tyrannei?
Ja, es ist wie das Bauen und Niederreißen von Gebäuden. Baustellen haben mich schon als Kind fasziniert. Am Balkan plant man nie für lange Zeit und schon gar nicht für die Ewigkeit, wie uns die Geschichte immer wieder bestätigt. Das 20. Jahrhundert war wohl das blutigste überhaupt. Ich bin ein Mann des 20. Jahrhunderts. Alles, was ich im 21. Jahrhundert erlebe, ist letztendlich eine Exkursion. Der Balkan ist wie eine Dunkelkammer, die Dunkelkammer Europas. Den Krieg in Ex-Jugoslawien habe ich bis heute nicht verstanden. Wie viele andere auch (nicht). In diesem ewigen Provisorium zerstören die Menschen, was sie schaffen und bauen es über Generationen wieder auf. Die Panik vor diesem Provisorium treibt die Menschen an. Das konnte ich in vollem Umfang miterleben. Vielleicht fehlt die Fähigkeit, eine bleibende Gesellschaft auszuformen. Mir war immer bewusst, dass alles, was ich tue, auch vergänglich ist. Was habe ich gemacht? Materie und Phantasie in Beziehung, in praktische Esoterik zueinander gebracht. Der Stein hat ein Gefühl. In der Natur ist er vollkommen, in sich geschlossen. Jeder, der einen Stein berührt, empfindet das anders. Es gab Steine, die mich verarschten, weil sie nur scheinbar leicht zu bearbeiten waren. Ich kann nicht erklären, was die Geister und Figuren in den Steinen tun. Sie sind wohl im Spiel miteinander. Das passiert jede Nacht auch mit den Figuren in den Zeichnungen. Die Phantasie hat ihre eigenen Wege und jede Arbeit hat ihre eigene (intuitive) Choreographie.

Wann erschöpft sich eine Arbeit?
Im Prozess des Zeichnens wird anfangs eine Idee, eine Vision, die immer in Phasen abläuft, projektiert. Ich versuche, diese Phasen mit meinen Zeichnungen festzuhalten, radiere, verwerfe eine Form und fange von vorne an. Immer wieder. Mit einer oder mehreren Zeichnungen ist ein Thema immer wieder auch erschöpft, nicht so aber bei den Nachentwürfen zu meinen Stätten gegen den Faschismus und Militarismus, die deren Entstehungsprozess dokumentieren.

Und Ihre Logik der Phantasie übertragen als imaginäre Realität in Piktogramme auf Papier oder Stein?
Schon in meinen frühen Träumen sah die Straßenbahn, unser Haus, wie ein Käfer aus. Meine Eltern wollten schon den Arzt holen. Bei aller Phantasie ist aber wichtig, dass die materia prima für mich immer das Wort war. Das habe ich erst verstanden, als ich das Denkmal für die jüdischen Opfer des Faschismus am sephardischen Friedhof in Belgrad geplant und so Zugang zur Kabbala gefunden habe: Im Anfang war das Wort. Ein Grundgedanke setzt sich immer in Worten fest. Über die jüdische Symbolik bin ich ins Träumen geraten, die architektonisch wunderbar umzusetzen ist.

Um Ihre eigenen Gedanken nicht zu zensurieren, haben Sie Aufzeichnungen jahrelang in einer grünen Schachtel gesammelt, auf die niemand mehr zugreifen konnte - weil mit grüner Tapete zugeklebt. Sind sie der surrealistischen Écriture automatique nachempfunden?
Ja, jahrelang habe ich Gedanken und Träume in den letzten Jahren als Dissident in Belgrad und in meiner Dorfschule in Mali Popovic notiert, aber nie datiert und in einem leeren Waschmittelkarton gesammelt, um jede Selbstzensur zu vermeiden. Diese Botschaften, die Écriture automatique mit der Aufzeichnung meiner Träume verbinden, habe ich mir selbst geschickt. Ich konnte sie in die Emigration nach Wien retten und habe lange gebraucht, sie wieder zusammenzufügen, um so etwas wie eine chronologische Ordnung zu schaffen. Das war eine Menge Arbeit, weil ich sie ja nicht datiert hatte. Alle Aufzeichnungen waren hier im Wohnzimmer ausgebreitet, die es ohne Miloševic wohl nie gegeben hätte. Was da alles zum Vorschein kam! Ich war immer wieder aufs Neue überrascht.

Die Aufzeichnungen sind im Buch „Die grüne Schachtel“ zusammengefasst, das 2007 (im Zsolnay-Verlag) erschienen ist. Ist es an Duchamps „Grüne Schachtel“ angelehnt?
Ja, ich hatte ganz vergessen, dass Duchamp ja auch eine „Grüne Schachtel“ herausgegeben hatte, Zeichnungen und Studien zum „Großen Glas“ oder „Die Braut von ihren Junggesellen enthüllt, sogar“, 1923. Deshalb hat das Buch einen Untertitel: „Buch der Träume“.

Marcel Duchamp hat Kunst mit den Ready Mades ad absurdum geführt. Wie haben Sie die Auftraggeber im sozialistischen Jugoslawien von Ihren Piktogrammen überzeugen können?
Ich hatte die Unterstützung Titos (Josif Broz, 1892 – 1980) der weder einen ausgeprägten Kunstsinn hatte, noch sehr gebildet war. Er war kein kommunistischer Fanatiker, er war so etwas wie eine „Lustige Witwe“ in diesem System. Als die Auftraggeber den fünfzackigen roten Stern an den Stätten anbringen wollten, habe ich dagegen argumentiert, dass amerikanische Flugzeuge ihn auch trügen. So wurden meine Denkmäler legitimiert. Eines meiner letzten Memorials illustriert 620 Monstren, schaurig und lustig zugleich. Das Denkmal für Widerstandskämpfer in Čačak bei Belgrad zeigt, wie einzigartig und originell das Böse sein kann. Es trägt eine gewisse Ironie in sich. Alle Figuren haben mehrere Bedeutungen. Die Zeichnungen sind im Maßstab 1:1 angefertigt. Auch Ksenija hat mitgezeichnet. Viele haben es nicht verstanden. Ich habe nur so viel gesagt: „Das ist der Faschismus, der eines Tages wiederkehren wird.“ Der Faschismus kam von selbst.

Immer wieder aber war die Choreographie der Stätten auf die Landschaft, die mehr oder weniger dramatisch war, abgestimmt. Nie habe ich meine Arbeiten gedeutet oder interpretiert. Nur so kann man einen Baumeister und Zeichner verstehen, der wie ich im Surrealismus lebte. Viele wollen immer wissen, was etwas heißt oder bedeutet. Das habe ich nie zugelassen. Irgendwann werden sie dann der Fragen ohnehin müde. Jede Zeichnung bedeutet auch immer wieder eine Reise ins Unbekannte, die zugleich immer auch ein großes Vergnügen ist!