Der Prater redet mehr, als er kann

Es ist wieder Zeit, machen wir Schluss mit dem Winter, wir haben doch alle die Nase wund. So ganz ohne Abstimmung, die hatten wir schon und gemerkt, am Schluss zählt bloß jeder gegen jeden.

von MAX BRUSTBAUER

Nimm ein Streichholz und zünd ihn an, den Funken, wie die Vorarlberger am Himmel von Wien es tun. Gib ihm den Kehraus, weil die Natur erwacht und lässt die Blümchen sprießen. Leise und zart erhebt sich das Leben und mit ihm, ganz unscheinbar bricht auch sie hervor, die uns wärmende, die befriedigende, diese Morgentau-feuchte Erotik. Und wo geht’s am Besten? Wie eh und je: im Prater!

Täglich früher erweckt die Sonne jetzt die Nacht, die dunklen Nischen verschwinden und werden unnütz erhellt. Im Winter war es eh zu kalt dafür: Schneekristalle auf nackter Haut, ein Fetisch dann nur, manchmal nach der finnischen Hitze, ist aber auch mehr Tortur. Jetzt bloß nicht abschweifen, halten wir dem Thema die Stange.

„Man sieht ja nicht zwei Schritte weit ... wohin kommen wir denn da ... es ist so dunkel ... nicht so laut ... da ist jetzt weit und breit keine Seel’ ... komm!“ Wer sagt das, wer macht sowas? Vielleicht letztes Jahr gehört, hinter der Fluc-Wanne? Ray-Ban mit Schnauzer oder Schnauzer und Pimkie? Zwei klare Nein. Der reigende Schnitzler war das, 1897, mit einem Bart, der jeden Hipster erblassen lassen muss.

Des Schriftstellers Soldat verschwindet mit dem Stubenmädl, ach wie romantisch, und dann wird angedeutet, mit Strichen, was immer schon dort passiert ist und noch heute, hinter Blättern oder als Schatten zu sehen ist. Natürlich gab es Vorlagen für diese Literatur, das echte Leben. Aber ja, ich bitte sehr, früher muss das doch schöner gewesen sein, weil heut ist es schlicht grindig dort! Noch ein Nein. Die Erotik im Prater war schon mal schöner? Schön wär’s. Im Moment wär’s uns dann zwar wurscht, aber für die Erinnerung, die soll doch jetzt auch noch immer schöner sein. Ist sie meist eh, weil vergangen ist vorbei, ob es gestern oder vormals gewesen war. Der erlebte Traum ist immer besser gebaut, größer und schöner und meist auch weniger betrunken, als das Erlebnis selbst.

Zurück aber zu diesen Stubenmädchen, die müssen es dem Herrn S. schon immer angetan haben. Drei Jahre bevor der Reigen fertig und  noch einige Jahre unter Verschluss war bis der Skandal schließlich öffentlich ejakulierte und daher noch nicht seine Kreise zu ziehen begann, war er eines Nachts auf Lepschi (Anm.: Wienerisch für „sich herumtreibend vergnügen“) mit dem Salten Felix, dem Beer-Hofmann Richi und dem von Hofmannsthal Hugo. Eine klasse Partie war das: vier Männer, kunstschaffend, ein bisschen Dandy und mitten in den Zwanzigern.

Nur einer scheint etwas steif zu sein, der junge Hugo, vielleicht die Zeit vorausahnend, steht er bloß so rum und wartet. Die andren drei verlustieren sich, schon im Photographenladen fangen sie an. Eine Hand umschmiegt die Hüfte, ein Kopf rutscht hinab zum Busen. „Schau mir in die Augen, Kleines!“ ist durch die Jahrzehnte voraus zu hören. Nur einer überthront das vielversprechende Szenario eben. He, Hugo, was soll denn das? Wollte niemand mit dir teilen? Wenn du nur so dastehst, erlebst du zwar etwas und doch auch wieder nicht.

So soll es doch nicht sein, hier im Würstelteil, nördlich der Hauptallee. Jetzt sein’S nicht so, wissen’S doch, wie in der Provinz die Alm, bleibt auch im Prater die Sünde fern. Ein Versprechen, das bis heute gilt. Weil, stellen wir uns vor, vier junge Typen – alles heute –  einer hat sicher wieder einen Schnauzer und den Fokus auf dem weiblichen Körper, gehen in den Prater, schießen ein Selfie, schicken es um die Welt, und dann zieht sie das Dunkel der Nacht hinab, erst morgen wird wieder erwacht. Da bleibt dann nicht viel, oder vielleicht gerade viel, besonders wegen der viermaligen Phantasie. Da kommt schon einiges zusammen. In dieser einen Nacht und erst in allen über die Jahrhunderte bisher. Die Praterbesucher bleiben sich treu, zumindest die männlichen.

Es hat sich also nichts geändert. Beruhigend, irgendwie. So ein bisschen kokett sein dürfen, oder einfach geil. Früher wäre es ein verstecktes Kneifen, heute ein beherztes Greifen, für beide Fälle gilt: gibt’s keine Watschn, dann läuft’s bald wie geschmiert. Im andren Fall, zum Schweizerhaus. Noch ein Bier, Herr Ober! Und ab geht die Phantasie, trifft sich dann selbst am Rutschturm Toboggan oder auf dem 117 Meter hohen Uhrturm-Kettenkarussell, übrigens, dem höchsten der Welt.

Nur die Buden haben sich also geändert, das Prickeln im Prater ist gleich geblieben. Nicht schöner, nicht schlechter, nicht dreckiger, nicht reiner. Es ist eben, wie es war: feucht-fröhlich und ein bisschen toll. Goethe mit seinem Faust hat es schon so gesagt, dann, wenn es wo gepasst hat: „Hier ist’s so lustig wie im Prater!“ Dem lässt sich nicht widersprechen.

Wir wissen also wie es ist, weil wir wissen, wie es war und deshalb darf es immer weiter so sein. Der eine läuft den Rockzipfeln nach, die andere lässt es mit sich machen, auf der Wiese, zwischen den Buden, an den Baum gelehnt und hinterm Gebüsch. Oder auch nicht. Grauslich schön mit so viel Tradition. Jeder könnt’ sich wie ein Schnitzler fühlen, manch’ anderer wie ein Hugo. Nur fragen darf sich keiner, wer hier wohl vorher schon mal war.

Deshalb hören wir jetzt auf, du zu lesen, ich zu überlegen, und gehen bald im Prater aneinander vorbei oder vielleicht zusammen in die Finsternis, weil, der Resetarits Willi singt es eh grad ganz richtig: „Der Prater redet mehr, als er kann.“