What If?
Storytelling ist en vogue. Auch in der Architektur.
Der Zustand der Stadt ist ein labiler. Um darauf angemessen reagieren und agieren zu können, greift Architektur vermehrt in fremde Werkzeugkisten. Warum auch nicht? Schließlich können wir nicht immer nur das machen, was wir ohnehin schon können. Und man wird ja ab und zu noch ein bisschen wildern dürfen.
von Sabine Pollak
Szenarien-Planung und das damit verbundene Storytelling sind Strategien, die inhaltlich weit von der Disziplin der Architektur entfernt sind und jetzt dennoch vermehrt Anwendung finden, vor allem in der Stadtplanung. Szenarien können eine noch ungewisse Zukunft illustrieren. Sie bieten ein Display für Zukunftsbilder und sind die trendige Version der Glaskugel. Szenarien helfen bei langfristigen Entscheidungen. Sie bieten sich an, wenn man mit dem bislang Erprobten nicht weiter kommt, jedoch nicht weiß, wohin die Reise gehen soll. In der Stadtplanung und Architektur sollten sie möglichst den Kopf frei machen von allen Restriktionen, die das Bauen sonst so mit sich bringt. Szenarien beflügeln die Phantasie und laden zum Handeln ein. Sie oszillieren zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Realität und Fiktion und zwischen Wissenschaft und Kunst. Sie bieten einen gemeinsamen Horizont für all jene, die an einem Szenario arbeiten. Zwischen Best-case- und Worst-case-Szenario ist alles denkbar. Szenarien führen manchmal zu einem Best-Practice-Modell, aber nicht immer. Und dennoch gibt es kaum ein Scheitern, wenn man mit Szenarien arbeitet. Keine Annahme kann zu weit her geholt, kein Horizont zu fiktiv sein. Im Gegenteil, je weiter hergeholt, desto besser, je fiktiver, desto befreiender. Oder zumindest desto mehr Lust in der Entwicklung der Szenarien. Für Architekten ist das Arbeiten mit Szenarien so etwas wie die Erholung vom Bauen, der Kurzurlaub von der Mängelliste, die Tanzparty nach der Bestandsplanung.
Zukunftsszenarien für die Wirtschaft
Angewandt wird das Planen mit Hilfe von Szenarien vor allem in Wirtschaftsdisziplinen. Der Erdölkonzern Shell Oil etwa begann schon sehr früh, mit Zukunftsszenarien zu arbeiten. Seit 1971 veröffentlicht Shell nun jährlich ein sogenanntes „Global Long Time Scenario“, in bunte Bilder von unangetasteten Landschaften verpackt. Angesichts der katastrophalen Verschmutzung im Nigerdelta wird man das Gefühl nicht los, dass Shell seine Probleme in der Gegenwart nicht lösen kann und daher in die Zukunft abdriftet. Aber dennoch sind Szenarien mittlerweile Bestandteil nahezu jeder größeren Organisation. Szenarien finden vor allem jedoch auch beim Militär Anwendung. Sie bieten ein projektives Bild dessen, was durch eine militärische Strategie erreicht oder vermieden werden sollte. Im September 2013 entwickelte die Schweizer Armee ein solches Szenario unter dem Namen „Duplex Barbara“. Warum ein militärisches Szenario einen Frauennamen erhält, bleibt unklar, jedoch war das Szenario folgendes: Aufgrund einer tiefgreifenden ökonomischen Krise gerät Europa ins Chaos und Frankreich zerfällt in eine Reihe kleiner Staaten. Saonia, einer dieser neuen (fiktiven) Staaten an der Grenze zur Schweiz, macht seinen Nachbarn für die finanzielle Krise verantwortlich. Der kleine Staat startet eine paramilitärische Attacke, und die Schweiz muss sich verteidigen. Als Präsident Hollande von dem Szenario der Schweizer hörte, war er „not amused“. Letztlich aber lachte ganz Frankreich, als Le Matin das Szenario der Schweizer veröffentlichte, inklusive der vom Schweizer Militär erstellten Karte von Saonia. Augenblicklich wurde ein alternatives Szenario entwickelt: Frankreich erleidet auf Grund der ökonomischen Krise eine Hungersnot und beschließt, die Schweiz anzugreifen, um an deren Schokolade zu kommen. Was wiederum die Schweizer nicht lustig fanden. Aber Szenarien sind nun einmal dazu da, den eigenen Horizont zu überschreiten, auch wenn sie mitunter absurd oder weit hergeholt scheinen.
Szenarien vs. Wettbewerbe und Luftblasenprojekte
Szenarium und Storytelling in der Architektur verlangen einen offenen Zugang zur Zukunft der Stadt und zu möglichen neuen Räumen, der nur wenig mit dem Alltag der Produktion von Architektur zu tun hat. Ein gewisser Befreiungsakt ist also notwendig; auch kann es sicher nicht schaden, ein wenig Spaß dabei zu haben. Und angesichts all der verlorenen Wettbewerbe, der Luftblasenprojekte und der gescheiterten Verhandlungen mit potentiellen Klienten kann es so falsch auch nicht sein, etwas Neues zu probieren. Zumal wir das Feld nicht zur Gänze den Ökonomen und Zukunftsforschern überlassen sollten und schon gar nicht dem Militär.
Szenarien nehmen – sollen sie glaubhaft vermittelt werden – die Form von Geschichten an, die geschrieben, erzählt, gezeichnet oder aufgeführt werden müssen. Mit herkömmlichen Methoden der Architektur kommt man dabei nicht weit. Ein Modell zeigt einen statischen Zustand und bewegt sich selten. Ein Plan besteht aus Linien und Flächen und sagt nichts aus über das zukünftige Leben, das Klima oder die Politik in Städten. Wir müssen also noch tiefer in die Trickkiste der Disziplinen greifen. Geschichten müssen glaubhaft vermittelt werden, ansonsten wird niemand in dem Stadtszenario mitspielen. Die Zukunft der Stadt also als Comic, als Film-Script, als Novelle oder Familienaufstellung? Als Storyboard, Pulp Fiction, Hörspiel oder Drama? Ja! Denn alles, was hilft, Kommendes zu antizipieren, ist zulässig. Was wäre also, wenn? Was wäre, wenn die Stadt so schön, so wunderbar, so aufregend wäre, so dass sie alle unsere Erwartungen übertrifft? Was wäre, wenn alle Menschen in einer einzigen Stadt leben würden? Was wäre, wenn es keine Bauordnung mehr gäbe? Was wäre, wenn alle Stadtplanung nur von Frauen gemacht würde? Was wäre, wenn Architektur plötzlich ein Anliegen der Politik würde? WHAT IF?
Credits (v.l.oben n.r.unten)
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Cover Amazing Stories
Cover: http://vtspecialcollections.wordpress.com/category/speculative-fiction/science-fiction -
The World's First Architecture Storytelling Competition
Cover: www.blankspaceproject.com -
Stadtmodell aus Schokolade. Haben die Franzosen so viel Schokolade, um damit Stadtmodelle bauen zu können?
Fotos: Beyond Architecture. Imaginative Buildings and Fictional Cities, DesignSight -
Mensch und Stadt
Performance: Eric Olofsen - Shell Answer Book #25, The Energy Independence Book
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Design als Storytelling
Foto: Fiona Raby - Performance Daniel Aschwanden, Symposium Superstadt (2)
Fotos: Kunstuniversität Linz