CHICAGO, CHICAGO THAT TODDLING TOWN … (Frank Sinatra)

Ein Streifzug durch Chicago.

Von Anna Soucek

Chicago hat mit größter Selbstverständlichkeit etwas, für das andere Metropolen viel Aufwand betreiben, ohne es jemals in annähernd hoher Qualität zu erreichen: Freiräume, sowohl Parks als auch Strände, in unmittelbarer Nähe zum Zentrum. Nur eine Unterführung am Ende der “Magnificent Mile” genannten Haupteinkaufsstraße ist zu durchqueren, um zu einem großzügigen, weitgehend konsumfreien und für alle Menschen zugänglichen Sandstrand zu gelangen. Solche Großstadtoasen sind entlang des ganzen Ufers des Lake Michigan zu finden, an dem Chicago liegt, die Skyline immer in Sichtweite.

Nicht nur wohnen und arbeiten, auch parken mit hervorragender Aussicht und in bester Innenstadtlage kann man in den Marina City Türmen. Errichtet wurde der Geschäfts- und Wohnkomplex Anfang der 1960er Jahre nach Plänen des Architekten Bertrand Goldberg als Stadt in der Stadt, um der Abwanderung in die Vororte entgegenzuwirken. Angesichts der Quadratmeterpreise im sogenannten Loop, der Innenstadt, ist es kurios, dass die untersten 19 Stockwerke der weltberühmten Türme – aufgrund ihrer zylindrischen Form und Oberflächenstruktur werden sie auch “Maiskolben” genannt – immer noch unbenutzten Kraftfahrzeugen vorbehalten sind.

Kurz ist es gut gegangen, das Experiment von George Pullman. Der Unternehmer ließ 1880 für die Arbeiter seiner Fabriken, in denen Luxus-Eisenbahnwaggons produziert wurden, eine firmeneigene Mitarbeiterstadt im Süden von Chicago errichten. Nach dem Modell einer viktorianischen Kleinstadt wurden Arbeiterunterkünfte in Reihenhäusern, eine Bank, ein Theater, eine Kirche, eine Schule, Sportanlagen und Geschäfte gebaut. Wer für Pullman arbeitete und im gleichnamigen Ort wohnte, hatte keinen Anlass, diesen zu verlassen. In der Wirtschaftskrise jedoch brachen die Absätze ein und Pullman senkte die Löhne seiner Arbeiter, nicht jedoch den Mietzins. Die Arbeiter reagierten mit Streiks, der Frieden in Pullman-Stadt war Mitte der 1890er Jahre vorbei. Den Ort als Sehenswürdigkeit für Besucher zu etablieren, ist nie gelungen, obgleich die Bewohner der historischen Reihenhäuser sich um die Renovierung und Aufwertung ihrer Denkmal-Architektur bemühen. Zu schlecht ist die Verkehrsanbindung an den Ort, in dem Luxus-Waggons einst ein- und ausfuhren.

Von Tierblut rot gefärbte Flüsse und ein bestialischer Verwesungsgestank, der sich über die ganze Stadt legt: In Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert wird Chicago als “widerlichster Ort” der Welt beschrieben, was den „Union Stock Yards“ genannten Schlachthöfen zuzuschreiben ist. Der automatisierte Tötungsprozess und die perfekt organisierte Logistik ermöglichten, täglich riesige Fleischmengen zu produzieren. Etwa ein Fünftel aller Bewohner Chicagos war hier beschäftigt, viele unter furchtbaren Arbeitsbedingungen. Heute ist das Areal gesäubert, es wird gewerblich genutzt und von den alten Produktionsanlagen ist nichts mehr übrig. Bis auf das ehemalige Eingangstor, das dem Lieblingsstier des damaligen Direktors des Geländes und Auftraggebers des Tores ein Denkmal setzt.

Unter eine erhöhte U-Bahnstation der Green Line baute Rem Koolhaas, der sich im Architekturwettbewerb gegen Peter Eisenman, Zaha Hadid, Helmut Jahn und Kazuyo Seijima durchgesetzt hatte, das Studentenzentrum des Illinois Institute of Technology. Die U-Bahngleise verpackte er in eine elliptische Edelstahl-Röhre, deren Unterseite einen Teil der Decke des einstöckigen Neubaus bildet. Ebenfalls integriert wurde ein bestehender Bau von Ludwig Mies van der Rohe, der eine Cafeteria beherbergt. Als Zentrum des Campus Center, wo vormals auf dem Gelände verteilte Einrichtungen wie Buchgeschäfte, Mensa, Aufenthalts- und Lernräume gebündelt sind, scheint das McCormick Tribune Campus Center gut zu funktionieren. Vom U-Bahn Lärm ist kaum etwas zu hören.

Eine Skyline wie jene am Nordrand des Millenium Parks würden sich viele als Ausblick wünschen – im Trakt für Moderne Kunst des Chicago Art Institute werden die Fenster jedoch verhängt. Das hat nicht konservatorische Gründe. Gegen die spektakuläre Kulisse aus Hochhäusern kommen Kunstwerke schwer an. Dabei ist die Qualität der Arbeiten in der Sammlung so hoch, dass die meisten europäischen Museen nicht mit ihr konkurrieren können. Und mit dem Hochhaus-Ausblick schon gar nicht. Die Bewohner von Oak Park sind gewohnt, dass mit Plänen ausgerüstete Menschen durch ihre Straßen flanieren und ihre Häuser photographieren. Hier ist der Rasen perfekt getrimmt, die Blumenbeete sind gepflegt, amerikanische Flaggen gehisst und die Villen perfekt erhalten. Oak Park ist ein Stadtteil im Westen von Chicago, der aus zwei Gründen berühmt ist: als Geburtsort des Schrifstellers Ernest Hemingway und als Wirkungsstätte des Architekten Frank Lloyd Wright. In den ersten zwanzig Jahren seiner Karriere baute Wright, angefangen mit seinem eigenen Wohnhaus und Atelier, über zwanzig Familienvillen in dem Viertel. Einmal im Jahr öffnen die Bewohner ihre Häuser für Architekturinteressierte – dazu sind sie seitens des Denkmalschutzes angehalten.

Nicht die Errichtung, sondern der Architektur-Wettbewerb des Chicago Tribune-Hauptquartiers 1922 wird als Wendepunkt in der amerikanischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts gesehen. Während die Beiträge der amerikanischen Einreicher sich historischer Stile wie der Gotik oder des Palladianismus bedienten, waren die europäischen Entwürfe – unter anderem von Bruno Taut, Eliel Saarinen und Walter Gropius – funktionalistisch und modern. Eine Provokation leistete Adolf Loos mit einem Hochhaus in Form einer mit schwarzem Granit verkleideten dorischen Säule. Gebaut wurde schließlich ein neogotischer Turm nach den Entwürfen der Amerikaner Raymond Hood und John Mead Howell. Um die Weltgewandtheit der Bau herren zu demonstrieren, sind Steine von Bauwerken wie der Großen Chinesischen Mauer, der Hagia Sophia oder der Cheops Pyramide in die Außenmauer eingelassen.

Eine Skyline wie jene am Nordrand des Millenium Parks würden sich viele als Ausblick wünschen – im Trakt für Moderne Kunst des Chicago Art Institute werden die Fenster jedoch verhängt. Das hat nicht konservatorische Gründe. Gegen die spektakuläre Kulisse aus Hochhäusern kommen Kunstwerke schwer an. Dabei ist die Qualität der Arbeiten in der Sammlung so hoch, dass die meisten europäischen Museen nicht mit ihr konkurrieren können. Und mit dem Hochhaus-Ausblick schon gar nicht. Es gibt eine Alternative zu überteuerten Aussichtsdecks in Chicago: die Damentoilette im 95. Stockwerk des Hancock Tower. Sie gehört zu einer Bar, die freilich vor allem Panorama- Schaulustige anzieht, aber auch ohne den Weitblick, angeblich bis zu 130 Kilometer, eine angenehme Bar wäre. Die Kellnerinnen sind freundlich und drängen nicht zum Konsum, die Getränke kosten auch nicht viel mehr als zu ebener Erde. Es ist nicht ganz begreiflich, wieso ausgerechnet die Damen-Bedürfnisräume in einem wandhoch verglasten Raum unterkommen durften, aber noch rätselhafter ist, wie sich eine Spinne an der Außenseite in der Höhe von 300 Metern heimisch fühlen kann. Möglicherweise treiben sich in dieser Höhe mehr Lebewesen herum als vermutet.

Auf dem Campus des Illinois Institute of Technology stehen so viele Bauwerke von Ludwig Mies van der Rohe, wie sonst an keinem Ort auf der Welt. 1937 war Mies nach Chicago emigriert, wo er eine Professur an der Architekturfakultät des Armour Institute of Technology, der Vorgängerinstitution des IIT, und kurz darauf die Planung des neuen Campus übernahm. Mies verteilte die niedrig gehaltenen Institutsgebäude über das weitläufige Universitätsgelände im Stadtteil Bronzeville. Von den etwa 15 Gebäuden ist besonders die Crown Hall hervorzuheben, das Hauptgebäude der Architekturfakultät, eine offene, stützenfreie Halle mit einem Sockelgeschoß. Mit den behördlichen Auflagen hatte der Architekt keine Freude. Um die Stahlträger aus Gründen der Feuerfestigkeit nicht mit Beton verstärken zu müssen, ließ Mies widerwillig eine Sprinkleranlage einbauen. Die Geländer entlang der Außentreppe konnte er nicht verhindern.