MIT DEM GEHEN BIST DU IN DER ZEIT

Ihr erster Walk war in den 1960er Jahren in London. Was hat Sie dazu bewegt, diese Ausdrucks- form in der Kunst zu wählen?

Hamish Fulton: Ich war sehr jung, unreif, als ich diesen Walk mit Richard Long im Jahre 1967 in London gemacht habe. Es würde bedeuten, die Geschichte neu zu schreiben, wenn ich jetzt sagte, dass es ein bewusster Vorgang war, Informationen zu sammeln und dann zu entscheiden, meine Kunst mit Wal- king zu machen. Das wäre einfach falsch. Es war ein langsamer Prozess. Eine sechs Jahre lang dauernde Erfahrung, mich zu entwickeln, zu entscheiden und Fehler zu machen. Bis 1973. 1967 war das ...

Ein Prozess zwischen Versuch und Irrtum...

Ja, exakt, Versuch und Irrtum, sechs Jahre lang. So lange habe ich mich gesucht and Fehler gemacht, den Fokus gesucht und redu- ziert ... 1967 begann eine historisch kulturelle Entwicklung in unserer (neuen) Gesellschaft. Wichtig ist, dass ein großer Wandel in dieser Zeit erfolgt ist.

Ein (Um)bruch in der Gesellschaft. Ein langsamer?

Ein langsamer, aber vielleicht auch ein schnel- ler Umbruch. Die Eltern oder Lehrer meiner Generation hatten Kontrolle darüber, wie wir uns zu benehmen, was wir zu denken oder zu sagen hatten. In Folge ist man gut oder schlecht.

Und nichts dazwischen...

Ja, genau so. In der Musik, in der Pop-Kultur, in der Beat(nik)-Literatur begann der Bruch mit dieser Kontrolle, mit einer Auflehnung dagegen, ein totaler Bruch. Und dann war der Krieg in Vietnam, die wachsende Macht der US-Wirtschaft und Paris mit der Studentenre- volte ab 1968.

Gewaltig.

In nur wenigen Jahren ... manchmal passiert nicht viel. Das ist schon komisch: Wann weiß man, dass etwas Wichtiges in der Welt passie- ren wird? Manchmal tut sich jahrelang nichts und dann entwickelt sich plötzlich etwas völlig Neues in unserer Gesellschaft.

Wenn Sie auf Ihre Arbeit ab den 1960ern schauen, während all den Änderungen in den 1970ern bis hin zu unserer heutigen Gesellschaft: Ist die Kontrolle heute nicht wieder sehr stark spürbar?

Meinen Sie die Kontrolle über Internet?

Nicht nur, auch der Krieg in Afghanistan, Syrien und Mali ... die globale Wirtschaftskrise und der erklärte Kampf gegen den Terror: Angst ist das Mittel, um große Geschäfte zu machen.

Ja, das sehe ich genau so.

War das einer der Gründe, Ihre Walks in China zu machen?

Ja, wenn wir darüber sprechen, wie Tibeter den Himalaya in die Diaspora (über)que- ren, weil sie dort ihren (geistigen) Lebens- raum verlieren. Wenn Sie die Freiheit haben, darüber zu sprechen, dann machen Sie das bitte. Geben Sie dem eine Stimme und tun Sie das! Es geht nicht nur um die Kontrolle in China, sondern auch in den USA.

Ja, sicher.

Das amerikanische System ist anders, dort kontrolliert die Autoindustrie. Dafür braucht man Benzin oder Gas.

Ja, es geht um Ressourcen, um Rohstoffe.

Walking steht dazu in totalem Gegensatz, aber wir brauchen Benzin oder Gas mit diesem Auto-Spirit. In den 1970ern wurden ganze Städte mit der Autoindustrie gebaut. Ich glaube, es war 1971, als die US-Regierung beschloss, die Straßenbahnen aufzulassen.

Der große amerikanische Straßenbahnskandal der Big Three (General Motors, Chrysler, Ford) begann früher in Detroit, der Motor-Stadt, als die öffentlichen Verkehrsmittel von der Autoindustrie aufgekauft wurden.

Sie haben so argumentiert, dass niemand damit fährt und es eine Geldverschwendung wäre!

Das ist die Situation heute in L.A., nachdem die Straßenbahn wieder aktiviert worden ist. Leere Züge fahren in die Vorstädte, jeder hat dort eben sein Auto. Das wäre niemals denkbar in Wien.

Jeder hat ein Fahrrad.

Ja, das entwickelt sich derzeit. Der öffentliche Verkehr funktioniert gut in Wien.

Es gibt verschiedene Verkehrsmittel: Bus, Straßenbahn, U-Bahn ... wie in Japan.

Nach dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen kann man sogar seine Uhr stellen...

Ja, von Zeit zu Zeit dann die schockierende Meldung in japanischen Zeitungen: Shinkan- sen um 30 Sekunden verspätet! In Japan gibt es auch eine starke Autoindustrie, aber ebenso Busse, Fahrräder, Zug, Seilbahnen ... hier in den Alpen, in Bad Kleinkirchheim, überall gibt es Busse.

In den Staaten gibt es Städte, in denen es keine Gehsteige gibt. Die Menschen denken nicht so, wie wir hier miteinander reden. Sie haben ihr Auto, ihren Truck ... In den Staaten ist das Auto ihr öffentlicher Raum. Sie organisieren ihr Leben vom Auto aus. Das ist ihre Wahrnehmung von öffentlichem Raum. Das Auto ist öffentlicher Raum und Privatbereich zugleich. In Europa würde das niemand je so sehen!

Ja, auch der Bereich, wo sie entspannen ... sie sitzen alleine im Auto, ein ruhiger Moment.

Zurück nach Europa: Sie planen ein Projekt in Bad Kleinkirchheim, Kärnten?

Ja, aber ich kenne die Rahmenbedingungen zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht. Es wird geschehen, aber derzeit habe ich keine nähe- ren Informationen darüber.

Haben Ihre Walks Sie verändert? Was sind Ihre per- sönlichen Erfahrungen, die Sie dabei gemacht haben?

Ja, das haben sie. Entscheidend ist: Wenn Sie ein Bild machen wollen, gehen Sie in ein Ate- lier oder Studio. Wenn das Bild archiviert und das Gebäude von einem Feuer zerstört wird, ist auch das Bild für immer weg. Wenn Sie einen Walk machen, bleiben Sie nicht nur am Leben, sondern niemand kann Ihnen diese Er- fahrung wieder nehmen. Das ist vergleichbar mit Menschen, die in dieser Region leben und am Wochenende in die Berge gehen. Wenn sie alt sind und das jahrelang gemacht haben, prägt das deren Kopf und Körper, Einstel- lung und Wahrnehmung. Ich kann Frustrati- on erfahren, nicht beim Gehen, es hängt von der Art der Frustration ab. Manchmal ent- deckt man, dass eine Karte von der Realität abweicht, das frustriert. Das ist eine Frust- ration beim Walking. Im Leben, so denke ich zumindest, kann man von etwas angepisst sein. Ich rede nicht darüber. Gehen belohnt und man ist dabei in der Zeit.

Im Hier und Jetzt, einer physischen und mentalen Erfahrung.

Ja, das Gehen ist mehr und mehr im Gegen- satz zum Verhalten.

Weil heute alles sehr schnell ist?

Ja, und das Ergebnis dieser Geschwindigkeit. Wenn wir sagen: Wir gehen jetzt zu diesem Berg, steht das im Gegensatz dazu, in einen Bildschirm zu schauen. Aber heute wollen Leute das überhaupt nicht (so sehen). Mög- lich, dass Ältere vor der Internet-Ära das so wahrnehmen. Das Ergebnis vom Bildschirm: Ich gehe da nicht hin, weil es ja den Bild- schirm gibt! Mit der Maschine (Seilbahn, Anm.) fahren wir wieder vom Berg runter! Wir vergessen dabei, dass wir zu Fuß hinun- ter gehen könnten. Wir haben Erfahrungen, ohne Extrem sport in den Alpen oder USA zu machen. Für Extremsportler wäre es sicher auch interessant zu sehen, warum jemand das so machen kann! Es ist völlig falsch zu behaup- ten, dass uns Internet unglücklich macht. Es gibt einfach Menschen, die Sauerstoff brau- chen. Künstler, zeitgenössische Kunst in unserer Gesellschaft, ist wie Sauerstoff, weil sie Luft gibt und etwas anderes entgegnet, provoziert oder etwas Verrücktes ins Leben der mächtigen Regierungen und Kontrollen ruft.

Wenn Sie sagen, dass Ihre Walks eine Reaktion sind, haben diese Erfahrungen Sie zum Gehen gebracht? Der Körper hat ein Gedächtnis.

Ja, der Körper erinnert sich, das ist unglaub- lich!

Gehirn und Körper, von den Füßen zum Gedächtnis!

Ja, ganz und gar. Im Kunstkontext spricht man nie so: Ihre Füße haben ein Gedächtnis oder ein Gehirn! Da geht es immer um: Dieser Maler oder Performance-Künstler...

Oder Land Art-Künstler ...

Ja, es geht (leider) nie um dieses Thema. Das Gehen ist ein Open Space, um denken und experimentieren zu können. Ein Wissenschaft- ler, ein Biologe oder Physiker könnte diese Erfahrung wissenschaftlich erklären ...

Und in Normen oder Abweichungen artikulieren. Techniker oder Technokraten ... das Problem könnte hier liegen ...

Ja (lacht)!

Sie sagen nicht: So geht das! Sie setzen Zeichen, die man annimmt oder eben nicht?

Ja, es gibt globale Unternehmen, Museen, Künstler mit „mächtig“ Geld, das wird zur Logik und etabliert sich als KORREKT! Es ist inopportun zu sagen: „Ich mag die Malereien von Piero della Francesca nicht!“ Das ist unzumutbar und nicht angemessen. Aber selbst, wenn Sie die Malereien nicht mögen, haben Sie Ihre Meinung! Wir haben Gefühle und Meinungen, und eben auch Überzeugungen. Ich mag seine Malereien, verwende dieses Beispiel aber sehr gerne, wenn ich darüber spreche. Auch abs- trakte Malerei. Und primitive Kunst ( indigene arts), weil dort die Kontrolle der sogenannten „wichtigen Kunst“ nicht gegeben ist. Wissen Sie, in der Downing Street in London, in den Räumlichkeiten des Premierministers, hängen Turners in den Gängen. Und jeder, der dort vorbeihuscht, sieht immer nur Malereien von Turner! (lacht).

Das Gespräch führte Doris Lippitsch.

Hamish Fulton, 1946 in London geboren, ist Walking Artist und Fotograf. Seine Walks machten ihn international bekannt. Ende Oktober bespielt Fulton den öffentlichen Raum in der südfranzösischen Stadt Sète im Languedoc-Roussillon.