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Ein Fluss, der durch eine Stadt fließt, trennt und verbindet gleichzeitig. Wie man die jeweils andere Seite wahrnimmt, hängt von der Perspektive ab. So auch in Hamburg. Die Elbinsel Wilhelmsburg galt dort lange als städtischer Hinterhof: Migrantenanteil über 50 Prozent, Arbeitslosigkeit über elf Prozent, Beschäf- tigungsfeld vieler Sozialarbeiter und jetzt Austragungsort der Internationalen Bauausstellung (IBA).

Von Jennifer Lynn Erdelmeier

Wilhelmsburg ist Hamburgs flächenmäßig größter Stadtteil südlich der Innenstadt. Im Norden und Westen der Insel liegt der Hafen mit seinen Lager- und Industriebetrieben direkt neben den Wohnsiedlungen. Im Gegensatz dazu scheint der Süden und Osten mit seinen Einfamilienhäusern und Kleingärten fast ländlich, wären da nicht die vielen Straßen, auf denen tausende Autos täglich vorbeisausen.

SPRUNG ÜBER DIE ELBE NACH WILHELMSBURG

50.000 Einwohner leben dort, nur acht S- Bahn-Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, und doch befindet sich Wilhelmsburg für die meisten Hamburger in einer anderen Welt, deren Grenze man besser nicht überschreitet. Dorthin fährt man nicht, man kennt es nicht, man braucht es nicht. Es hat sich im Laufe der Zeit vom Arbeiter- zum Armutsviertel gewandelt und schließlich zum düsteren Problembezirk. So war es bisher. Die IBA will dies durch den „Sprung über die Elbe“ – so das Motto – ändern und Wilhelmsburg zu einer „Stadt der Zukunft“ aufwerten, zu einem respektablen Quartier wandeln. Anders als bei der HafenCity, dem künstlichen Luxusquartier mit seiner exzentrischen Architektur, soll Wilhelmsburg zu einem Quartier werden, wo das wahre Leben stattfindet – Heimat wohnt. Dafür hat die Stadt Hamburg aus einem Sonderinvestitionsprogramm 90,2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Der Rest wurde entweder durch Investoren finanziert oder musste von den Stadtplanern der IBA über Kooperationen mit der Privatwirtschaft eingetrieben werden. Die Gesamtkosten sollen sich auf eine Milliarde Euro belaufen.

WELTQUARTIER UND ENERGIEBUNKER

Nach sieben Jahren Planungs- und Bauzeit sind die meisten Projekte fertiggestellt. Eines davon ist der Bildungscampus „Tor zur Welt“. Dort ziehen nicht nur Schulen ein, sondern auch außerschulische Bildungseinrichtungen und Beratungsstellen. Das „Weltquartier“ ist eine ehemalige Arbeitersiedlung, die nach den Plänen von sieben Architekturbüros zu einem Modellprojekt für interkulturelles Wohnen mit mehr als 750 Wohneinheiten umgestaltet wurde. Durch den benachbarten „Energiebunker“ erfolgt eine regenerative Wärmeversorgung. Eine ehemalige Giftmülldeponie wurde zu einem „Energieberg“ umfunktioniert, dort sollen zwei Windräder sowie eine Photovoltaikanlage 4.000 Haushalte mit Strom versorgen. Das 45 Hektar große Areal ist inzwischen für die Öffentlichkeit als Aussichtspunkt zugänglich gemacht worden.
„Wilhelmsburg Mitte“ ist ein neues Wohn-, Arbeits- und Freizeitquartier, eingebettet in den Park der IGS (Internationale Gartenschau) Hamburg 2013. Verschiedene Projekte widmen sich dort speziell dem Thema Wohnungsbau. Unterschiedliche Bautypen zeigen die Zukunft des Wohnens, von hybriden Häusern bis zu intelligenten Materialen, wie bei dem Algenhaus. Seine Glasfassade ist mit Mikroalgen gefüllt, die Biomasse und Wärme produzieren. Insgesamt gibt es 50 bauliche, soziale und kulturelle Projekte.
Die IBA (Internationale Bauausstellung) wollte auch die Verkehrsprobleme angehen, scheiterte jedoch am Senat. Eine der großen Verkehrsachsen – die vierspurige Bundesallee – sollte stadtteilverträglich zurückgebaut werden. Der Senat wollte aber die Straße direkt neben die Bahntrasse mit ihren zahlreichen Gleisen für S-Bahn, Güter- und Fernverkehr verlegen. Der Beschluss dazu wurde im Juni erlassen. Die Kritiker befürchten, dass gerade dadurch der Charakter einer Stadtautobahn entstehen wird.
Das Event IBA läuft noch bis zum 3. November. Zweifelsohne leistet die IBA einen Beitrag zur Verbesserung der Situation in Wilhelmsburg. Es wird sich zeigen, ob solch ein Event langfristig Probleme lösen kann und ob die Finanzierung der Projekte auch anschließend gesichert ist.
Dennoch geht in Wilhelmsburg bereits die Angst vor leeren Bauruinen um, aber auch vor Gentrifizierung und weiterhin steigenden Mieten, was bereits eingetreten ist: Lagen die Preise im Jahr 2000 im Schnitt noch bei 3,50 Euro pro Quadratmeter, so sind es inzwischen rund sieben Euro. Das ist nicht nichts.