DER FENSTERGUCKER WIEN

Was soll denn das alles bringen, heute, gerade eben, also dieses Nachdenken über den Mikrokosmos im Makrokosmos? Jetzt, ich meine hier, für uns. Wie soll es möglich sein, darauf eine Antwort zu finden und wieso überhaupt? Im Rahmen von „querstadt wien“ wurden 46, eigentlich einige mehr, aber dazu komme ich später, vielleicht, falls mich der Text hier dorthin führt, Wienerinnen und Wiener interviewt, um zu finden, ja eigentlich exakt zu definieren, was Wien denn sein kann, diese Stadt, in der wir leben, dieses schon so oft definierte Wien.

Von Max Brustbauer

Ich wusste es vorher nicht, was soll ich dann erzählen, wenn mich jemand fragen würde? Ich kenne meinen Weg von der Wohnung zum Büro, finde den Weg nach Hause von den Bars, immer von denselben, die ich regelmäßig aufsuche. Weil, manchmal wache ich eben auch auf und weiß gar nicht mehr, wie ich nachhause gekommen bin. Aber scheinbar weiß ich es eben doch, zum Glück, wer kennt das nicht, wer darf hier lachen? Dieselben Kreise von Menschen, in denen ich mich durch die Stadt bewege und irgendwie, ich weiß es, wie jeder andere doch auch, habe ich keine Ahnung, ob da eine Ecke weiter nicht eine Bierrumsn ist (heruntergekommenes Lokal, wo ausschließlich Bier getrunken wird; und Schnaps; eigentlich etwas sehr Schönes, Anm.), mit Menschen drinnen, von denen ich genauso wenig Ahnung habe.
Wir können uns also alle darauf einigen, ich hatte keine Ahnung. Nur ein Einziger von „querstadt“ ist gebürtiger Wiener und der sagte immer: „Ach, das wusste ich noch gar nicht!“, oder „Ach, hier war ich noch nie, aber schön ist‘s.“ Schon wieder keine Ahnung. Gibt es dafür eigentlich ein Synonym, etwas Wienerisches würde hier jetzt gut reinpassen. Das war meine Motivation auf diese Frage, ach, es war meine Hypothese. Jetzt weiß ich es aber genauso wenig, eigentlich, und vielleicht gerade deshalb, umso deutlicher.

In der Welt von gestern, da soll es das Burgtheater gewesen sein. Dieses schöne Bauwerk, so sagen wir heute dazu, tolle Akustik, Zentrum der Sprachkultur und so weiter, und am 1. Mai schauen die Stadtpolitiker über die Menschenmengen hinweg, hinüber, nur so, nebenbei erwähnt. Tolle Metapher, nicht wahr, egal. Es gehört also dazu, jetzt, ist Teil von uns und unserer Stadt, der angeblich ein und derselben Stadt. Stefan Zweig hat es schon so beschrieben. „Es war für den Wiener mehr als eine bloße Bühne, es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte.“ Toll, aber wieso spricht schon er von der vergangenen Vergangenheit? Wieso konnte er dieses Zen trum finden und benennen und wir heute nicht mehr? Was also kann es für uns heute sein, so singulär und punktuell? Gibt es so ein Gebäude oder vielleicht so einen Platz? Oder, falls nicht, wer ist dann überhaupt dieser Stefan Zweig mit seiner Meinung?
Ganz genau kann das hier noch nicht gesagt werden, dann wäre es ja einfach, der Text bisher umsonst und wir wären vermutlich nicht in Wien. Die Erkenntnis: Tendenzen und Ströme lassen sich aus der Stadt herauslesen, oder wie bei „querstadt wien“ heraussehen und -hören.Wir sind also mit der Hypothese, schön, so eine Hypothese, in das Projekt gegangen, dass es ein Wien gibt, wir mussten es nur finden. Und ehrlich, wir wollten es auch finden. Aber was wir gefunden haben, waren stattdessen diese vielen unterschiedlichen Wiens, die sich so herrlich in Wien widerspiegeln können, und von denen wir „ka Reisschissl und a ka Wintakirschn“ (Wienerisch für „keine Ahnung, keinen Schimmer haben“, Anm.) hatten.

Für den Meidlinger Gerhard ist es das verschwundene Grün der Kindheit „Do in Altmannsdorf, des woa füa uns Kinda ... oiso do woan Teiche, Gärten, Felder, oiso afoch ... a Mizzie, a echtes Mizzie“, wieder etwas gelernt, „Mizzie – ein großes Glück!“, und für die Roswitha in ihrem Hinterhausgartl, die 73-jährige Sieveringerin, ist „mein persönliches Zentrum ... des is die Wotruba Kiachn, do werden's ihna jetzt wundern, weil's eigentlich in Mauer is, owa ned weit weg und i hob hier olles, des Spitoi is ned weit, da Friedhof is a ned weid, was wü ma mehr!“ Und sie lachte, lange, wirklich lange. Überraschend, schockierend, wer hätte das gedacht, der tätowierte Meidlinger beim Bier und die liebe alte Oma, das Grün und die Wotruba-Kirche und ihre Freude an der Vergangenheit oder zukünftigen Vergangenheit. Erwartungshaltung trifft auf Realität! Auf der anderen Seite, wo bleibt das architektonische Wien, gehen wir also tief rein, ganz tief rein ins echte Wien. Grüß Gott Josefstadt: „Hier ises eng, hier ises alt, hier ises schmal, das ist für mich City und alles andere ist dann schon auslaufendes Wien, das interessiert mich nicht.“ Endlich, Klischee erfüllt, das erwarten die Touristen von Wien und wir doch auch, nicht wahr, Herr Cafetier Hummel? „Wir sind eine Stadt in der Stadt, noch ein bissl unter uns und das ist das Schöne.“ Ach, dürfen wir da nicht mitmachen? Nein! Geh bitte, es wäre doch so leicht gewesen, wie ein Mailüfterl, so ein bisschen mitschwimmen mit den anderen. Dann müssen wir uns also etwas Anderes suchen, etwas Eigenes? Vielleicht! Wieder die Frage, ein letztes Mal, versprochen: „Was ist es, dieses einzige Wien, was der Mikrokosmos im Makrokosmos?“

Es ist einfach, wenn ich es will, denn ich bin der Mikrokosmos, ich habe das bloß vorher nicht sehen können! Ich bin Wien, mein Wien, aber erst wenn ich andere Wienerinnen und Wiener kennenlerne, finde ich mein Wien, dann sind auf einmal wir Wien. Ich bin Schönbrunn und wir sind Stephansdom. Ich bin Mariahilfer Straße und wir sind Begegnungszone. Stefan Zweig bin ich und wir sind Wien! Warum? Weil wir es eigentlich nicht wissen, was wir wollen und wollen es aber. Wir wollen alles anders und die anderen wollen es immer anders. Mach es einfach, geh um die unbekannte Ecke, mach es leicht und sprich den Drangler (per definitionem ist das ein Mensch, der dem Alkohol nicht abgeneigt ist … nette Beschreibung, weil dann eh fast jeder in Wien, Anm.) in der Rumsn an, er ist vielleicht Professor und recherchiert genauso wie du. So werden wir dann bald auch wieder etwas Anderes sein. Vielleicht sind wir bald Sonnwendviertel, weil wir ja auch schon einmal Yppenplatz und Soho Ottakring waren, vielleicht sind wir bald Gürtel, weil wir das vor 20 Jahren ja auch schon einmal waren. Was bleibt also als Mikrokosmos? Ich und wir und wir bleiben nicht lange. Wien ist die Veränderung und immer das Umherschauen; die Wiener sind Wien und Wien verändert sich immer und der Friedhof ist nie weit weg; und das ist gut so!

„querstadt wien“ ist eine 46-teilige Dokumentation in Videointerviewform. Die zentrale Frage richtet sich nach der Wechselwirkung zwischen der Biographie eines Menschen und dem Motiv Stadt. Das Ziel von „querstadt wien“ ist, dass sich die Wiener Bewohner wieder mit ihrer Stadt auseinandersetzen.