Bücherspiegel

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Kullmann, Katja
Rasende Ruinen.
Wie Detroit sich neu erfindet
edition suhrkamp digital, 94 Seiten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 6,20 EUR
ISBN 978-3-518-06218-0

Wer für knapp sieben Euro nach Detroit reisen möchte, sollte jetzt im Online-Suhrkamp Verlag zu Katja Kullmanns neuem Buch greifen. Anfangs gewinnt man durch eine eher einschüchternde als einladende Internetrecherche den nötigen Respekt vor dieser Stadt. Man ist beim fast zögernden Mausklick der Flugbuchung dabei, steigt, kaum angekommen, mit Kullmann ins Mietauto ein, erhält während der Fahrt eine kurze geschichtliche Einführung und setzt mit der Autorin die ersten, ehrfürchtigen Schritte zu Fuß durch die leeren Straßen. Doch schon bald wendet sich das Blatt und man lernt die Herzlichkeit der Stadtbewohner kennen.
     Nach einem eisbrechenden Gespräch mit einem vermeintlichen Straßenmusiker sucht Kullmann stets den Kontakt mit den Bewohnern, wodurch man einen Querschnitt durch die Gesellschaft Detroits erhält: Kullmann liefert Einblicke in den Traum eines Immobilieninvestors von „verdichteter Unterschiedlichkeit“ im städtischen Raum, in die Probleme eines Plattenladenbesitzers, der zusammengetragenes Vinyl aus leer stehenden Häusern ankauft, und in die Vorhaben eines Stadtplanungsexperten, der das Stadtgebiet mit überschaubaren und stabilen urban villages verkleinern möchte. Eine Charity-Lady kommt zu Wort, mit der man Blicke hinter die Kulissen von Detroit „als Mikroversion eines Dritte-Welt-Landes“ wirft, ebenso wie eine fünffache junge Mutter aus der ärmeren Nachbarschaft. Am Ende ihrer dreiwöchigen Reise beschreibt die Autorin ihre Tätigkeit in einer öffentlichen Suppenküche für Bedürftige. Das ist auch der Ort, wo sie ein für europäische Verhältnisse unüblich starkes, freiwilliges Engagement der Bevölkerung entdeckt.
     Die emotionale Transparenz, mit der Katja Kullmann dem Lesenden begegnet, zieht sich durchs ganze Buch und dürfte die geheime Zutat sein, die das Gefühl erzeugt, selbst auf Reisen zu sein. Fernab der unzähligen „Ruinen-Porno“-Photographen taucht man nicht in eine für tot erklärte Stadt ein, sondern stößt auf kreative und solidarische Kooperationsformen, wie man sie sich in Europa nur wünschen kann.

VALENTIN SCHIPFER

 

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Finsterwalder, Rudolf (Hg.)
Form Follows Nature. Eine Geschichte
der Natur als Modell für Formfindung
in Ingenieurbau, Architektur und Kunst
512 Seiten, Deutsch/Englisch
Springer, Wien/New York 2012, 65,95 EUR
ISBN 978-3-7091-0855-0

Seit jeher schaut der Mensch bei der Natur ab und inspiriert sich an der Evolution. Rudolf Finsterwalder, Architekt, Ausstellungsmacher und Herausgeber, beschäftigt sich profund mit dem Thema. Ende letzten Jahres kuratierte er die gleichnamige Ausstellung in der Aedes Berlin, die durch Europa und die USA touren wird. Gleichzeitig und gleichwertig erschien die vorliegende Anthologie: eine inspirierende Sammlung von Essays. Die Autoren sind Musiker, Künstler, Biologen, Philosophen, Physiker, Mathematiker, Ethnologen und Architekten. Jeder Beitrag wird zu einer Entdeckungsreise für Detaillösungen aus der Natur. Dabei geht es um unterschiedliche Forschungsphasen: von der Suche nach den Fragen für die Grundlagenforschung bis hin zu Feinheiten bei der technischen Umsetzung. Die Auswahl reicht von Verdichtung musikalischer Werke mit Wachstumsregeln von Pflanzen bis hin zum Versuch, mathematische Ansätze für die Verteilung von Streifen in der Tierwelt zu finden. Historische Rückblicke, eine Bewertung von Frank Lloyd Wrights organischer Architektur oder die Geschichte der Kuppel des Zeiss-Planetariums in Jena runden ab.
     Je genauer die Analyse, desto eher ist es möglich, die grundlegenden Prinzipien zu erkennen. Diese dann anzuwenden und nicht einfach zu kopieren, ist die Basis für eigenständige kreative Ansätze.
     Besondere Perspektiven eröffnet der deutsche Architekt und Pionier Frei Otto in Sachen Leichtbauweise. Er denkt über Seeigel nach, stellt Fragen und leitet daraus Hypothesen zum Design der Evolution ab. In einem weiteren Kapitel erklärt er eines seiner Spezialgebiete: die Prinzipien von Minimalflächen und die räumliche Anordnung mit Seifenblasen. Die Metaebene liefert ein Interview – auch zu den Freuden und dem Leid bei der praktischen Umsetzung dieser Ansätze.
     Die gut lesbaren Texte gibt es auch in Englisch. Das hohe Niveau der Publikation feuert die Neugierde richtig an, ebenso wie die inspirierende Auswahl an überwiegend monochromen Abbildungen.

DAVID PASEK

 

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von Puttkamer, Jesco
Projekt Mars – Menschheitstraum
und Zukunftsvision
272 Seiten
Herbig Verlag, München 2012, 24,99 EUR
ISBN: 978-3-7766-2685-8

Endlich wieder Visionen. Und endlich wieder Helden. Mitte August ist der Forschungsroboter „Curiosity“ von der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA zu einer unglaublich komplexen, jedoch perfekt gelungenen Landung auf der Mars- Oberfläche navigiert worden. In den USA werden die Ingenieure als Stars gefeiert, sie bekommen Fanpost und sogar Heiratsanträge. Selbst Barack Obama scherzte, dass die NASA-Wissenschaftler heute „etwas cooler“ seien als früher. Und er bat, umgehend informiert zu werden, wenn – was ein Ziel der Marsmission ist – Kontakt zu Lebewesen hergestellt werden würde.
     Während der unlängst verstorbene Neil Armstrong den ersten Schritt auf dem Mond geleistet hatte, sind die Raumfahrt-Helden von heute vor den Bildschirmen im Kontrollzentrum stationiert. Bis Mars-Missionen bemannt sind, wird es dauern, etwa zwei Jahrzehnte, meint Jesco von Puttkamer, aber es wird geschehen. Puttkamer, der zeitweise auch wissenschaftlicher Berater von Star Trek war, argumentiert, warum der Mars unser nächstes Ziel ist, und „wie es dazu kam und kommt, dass der Rote Planet auch unser Schicksal und unsere Chance dieses Millenniums charakterisieren wird – ein Jahrtausendprojekt, an dessen umfassende Globalität kein anderes Ziel auch nur entfernt heranreicht“. Er schlägt dabei den Bogen von Hildegard von Bingen im 11. Jahrhundert bis zur „Curiosity“-Gegenwart und nahen Zukunft. Das Buch ist, mit seinen Illustrationen aus der Kulturgeschichte der Raumfahrt, Schemen von Laufbahnen und jeder Menge ansehnlicher Abbildungen der Mars-Oberfläche, ansprechend gestaltet, ist jedoch – trotz aller Begeisterung – stellenweise zu fachspezifisch, um für Laien verständlich zu sein. Doch die Botschaft kommt rüber: Wir sollten bereit sein, den Blauen Planeten in Richtung des Roten zu verlassen. „Galaxie ahoi!“ heißt ein Science-Fiction-Roman von Jesco von Puttkamer von 1958, ein weiterer seiner Buchtitel von früher ist „Welt ohne Menschen“. In seinem neuen Buch reicht er die wissenschaftlichen Argumente zu diesen frühen Utopien nach.

ANNA SOUCEK