Die Macht des Netzwerks - Lernen von Europa

In Zeiten einer tiefgreifenden EU-Krise scheint die Aussage „Lernen von Europa“ absurd. Doch Europa ist Sinnbild für Diversität, Gemeinschaft und Solidarität – nicht zuletzt durch die Verdienste europäischer Architekten und Urbanisten.

     NETZWERK EU – EIN VERSPONNENER IDEALISMUS?
„Europa“ und „Krise“ werden heute im gleichen Atemzug genannt. Journalisten zeichnen ein Bild des Scheiterns und ignorieren dabei bemerkenswerte historische Errungenschaften: ein halbes Jahrhundert dauerhafter Frieden, ein unblutiger Triumph der Demokratie über die in Europa herrschenden Diktaturen, ein europäischer Wirtschaftsraum, der dazu beigetragen hat, den ökonomischen Vorsprung der USA einzudämmen. Bis zur Pleite der  US-Investmentbank Lehman Brothers im Jahre 2008 war der Euro auf Erfolgskurs. Nicht zuletzt sind es US-amerikanische Rating-Agenturen, die europäische Banken und Staaten nach und nach herabstufen. Ein Krieg gegen den Euro tobt. Das Ende der Euro-Zone wird in den Medien heraufbeschworen. Bricht die Euro-Zone auseinander?

     NETZWERK EU
Das Konzept der Europäischen Union, als Netzwerk von Staaten zu funktionieren, bedeutet ein wachsendes Einflussgebiet, ohne die nationalstaatliche Souveränität ablegen zu müssen. Aber was können die Bürger heute in ihren demokratisch gewählten Staaten noch mitbestimmen? Die große Stärke der EU ist gleichzeitig ihre größte Herausforderung auf der Ebene einer erfolgreichen Identifikation der Menschen mit dem Konstrukt Europa. Der Prozess der Europäisierung initiiert für die Mitgliedstaaten und für neue EU-Mitglieder eine Phase der Integration und der Kohäsion. Dabei gehen Bestrebungen und Leistungen auf politischer, ökonomischer, legistischer, sozialer und nicht zuletzt auch räUmlicher Ebene über die nationalstaatlichen Interessen hinaus. Förderprogramme in Milliardenhöhe wurden in den vergangenen Jahren von der Europäischen Union ins Leben gerufen, um ungleiche  Entwicklungen auf wirtschaftlicher Ebene zu kompensieren und schwächere Regionen im Süden und Osten Europas aufzuwerten: eine verbesserte Anbindung an Straßennetze, neue Infrastruktur, Sanierungen von historischen Altstadtkernen und regionalen Kulturgütern. Und Werbung für ein gemeinsames kulturelles Erbe, durch Programme der Europäischen Kulturhauptstadt.

     STÄDTENETZWERKE
Die Stärke eines Netzwerkes manifestiert sich nicht zuletzt räumlich. Transnationale Strategien der EU für Integration und eine gemeinsame Identität, für räumliche und regionale Aufwertung sind so vielfältig wie das europäische Erbe selbst. Ein Beispiel für ein erfolgreiches grenzüberschreitendes Projekt ist das Städtenetzwerk QuattroPole, das  Luxemburg, Trier, Metz und Saarbrücken seit Anfang 2000 zu einer transurbanen Metropole zusammenschließt. Die Städtepartnerschaft bestand anfangs nur zwischen Metz und Trier und wurde dann auf Saarbrücken und Luxemburg ausgeweitet. Die Städte liegen in unmittelbarer Reichweite und sind nicht länger als eine Autostunde voneinander entfernt. Während die einzelnen urbanen Knotenpunkte räumlich und regional weitgehend unbedeutend sind, verfügt das Netzwerk QuattroPole über vier ICE ⁄ TGV-Bahnhöfe, drei Flughäfen, drei Häfen sowie ein gut ausgebautes europäisches Autobahnnetz. Infrastruktur und grenzüberschreitende Dienstleistungen werden dabei gemeinsam finanziert. Die Bürgermeister der vier Städte bestimmen die Ziele. Ein Koordinationsausschuss bereitet die Projekte vor, lokale Büros koordinieren diese in der jeweiligen Stadt und mit den  Partnerstädten. Das Saar-Lor-Lux-Ticket ist für den öffentlichen Verkehr in drei Ländern gültig. QuattroPole umwirbt Touristen mit dem Angebot „Vier Städte, drei Länder, ein Bett“. Besucher können in organisierten Touren alle vier Städte besuchen.

BEDEUTUNG DER EU-STÄRKEN

Die Bedeutung der Großregion soll auf europäischer Ebene gestärkt und vorhandenes Wissen,Infrastrukturen und regionale Potenziale sollen miteinander verbunden werden.
     Ein weiteres grenzüberschreitendes Projekt ist Green IT. 21 strategische Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes wurden von Experten ausgearbeitet und in einem Buch zusammengefasst, das als Leitfaden im öffentlichen und privaten Sektor dient, um für mehr
Nachhaltigkeit und Energieeffizienz zu sensibilisieren. Ein weiteres Städtenetzwerk ist Centrope: Das Netzwerk umfasst seit 2007 acht Regionen in vier Ländern (Österreich, Ungarn, Tschechien und Slowakei) und verknüpft Wien, St. Pölten, Eisenstadt, Bratislava, Brünn, Szombathely, Györ, Sopron und Trnava mit über sechs Millionen Menschen, verschiedenen Sprachen, Traditionen und Mentalitäten. Der gemeinsame Nenner ist wirtschaftliches Wachstum – unter Berücksichtigung der jeweiligen Kapazitäten, Bedürfnisse und regionalen Besonderheiten. Stattdessen führen soziale Krisen und eine hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit zu Unruhen und Massenkundgebungen. Zukunftsperspektiven fehlen, junge Akademiker verlassen ihr Land, vor allem in Südeuropa. Banken verzocken hochspekulativ das Geld der Menschen. Sozialleistungen werden abgebaut. Steuergelder dienen heute zum Großteil der Rettung von Banken. Auch hier wäre ein Netzwerk gefragt: ein internationaler Gerichtshof, der die Machenschaften der Banken und Hedgefonds eindämmt und Wirtschaftsvergehen gegen die Menschheit ahndet.

     NETZWERK OCCUPY
„Wir sind die 99 Prozent“. Occupy protestiert gegen den elitären Apparat – Banken, Klientelwirtschaft und -politik. Die Proteste haben am 17. September 2011 in New York (Occupy Wall Street) begonnen und mittlerweile über 95 Städte in 82 Ländern auf
allen Kontinenten der Welt erobert. In Europa großteils in Spanien und Großbritannien. Occupy plädiert für eine gerechtere Verteilung, für eine Reform der Banken und Steuern, für mehr Jobs, für soziale Gerechtigkeit. Kundgebungen werden mit sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook koordiniert. Occupy hat keinen Anführer, die Kundgebungen sind friedlich.

     REISE OHNE FESTES ENDZIEL
Bis heute ist das Netzwerk Europa „eine Reise ohne festes Endziel“, wie Mark Leonard, Leiter des paneuropäischen Rats für Auslandsbeziehungen, einmal sagte. Und genau dieser Verzicht auf eine konkret formulierte Vision hat den notwendigen Raum gelassen, dass sich jeder mit Europa identifizieren konnte und europäische Werte als erstrebenswert galten. Dies sollte in Zeiten der Krise wieder stärker in den Fokus der Politik gerückt werden.
Europa hat keine Alternative zum Konstrukt Europa.

     „TECHNIKEN DES EUROPÄISCH-SEINS“
Der in Innsbruck lehrende Architekturtheoretiker Bart Lootsma beginnt seinen Essay Was könnte eine europäische Architekturtheorie sein? mit einem Zitat von Samuel Beckett: „Wenn du beim ersten Mal nicht erfolgreich bist, setz’ es in den Sand, setz’ es wieder in den Sand, setz’ es besser in den Sand. Das Genie Europas besteht darin, dass es sich immer weiter bemüht.“ Gelten die politischen Maßnahmen der EU zur Vereinigung und Integration in heutigen Zeiten als gescheitert, stellt sich nun die Frage, ob sich die „Techniken des Europäisch-Seins“ (Winy Maas, Anm.) einzig auf politische Strategien zur Rettung von Banken reduzieren lassen. Maas zeichnet – der Krise zum Trotz – ein überaus positives Bild städtebaulicher Qualitäten und Prinzipien, die vielfach über den europäischen Kontinent hinaus exportiert worden sind. Dabei stehen wesentliche Errungenschaften wie der  Wohlfahrtsstaat, kollektive Interessen und soziale Solidarität im Mittelpunkt des Interesses. Architekten und Städtebauer beteiligten sich aktiv an sozialen Prozessen und setzten ihre Kompetenzen dafür ein, den Menschen eine lebenswertere Stadt zu bieten. Sozialer Wohnbau, Freizeit- und Arbeitsräume, die für die Allgemeinheit geplant und gebaut wurden, definierten die Raumproduktion. Europäische Architektur und Raumproduktion wurden in vergangenen Zeiten als Meilensteine weltweit gelobt und begehrt. Und die europäische Raumproduktion heute? Das Motto von Architekt David Chipperfield, Kurator der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig, ist „Common Ground“. Fraglich ist, ob der Kompromiss in der europäischen Raumproduktion die Lösung sein kann?
     Reale Phänomene und  Geschehnisse müssen in der Raumproduktion thematisiert werden, für eine Stadtverdichtung mit deutlichem Vorteil für die Nutzer, für lebenswerte europäische Städte. Die Europäische Zentralbank von Coop Himmelb(l)au feiert Dachgleiche. Ist die EZB das Symbol der Vereinten Nationen Europas?
     Zwei Dinge sollten wir trotz aller Probleme von der EU gelernt haben: Potenzial und Einfluss, die ein einzelner, noch so kleiner Akteur durch ein Netzwerk erreichen kann, vermag er niemals allein zu erlangen und – für den Fall, dass man im ersten Durchgang versagt: „Setz’ es in den Sand. Setz’ es wieder in den Sand. Setz’ es besser in den Sand.“ (Samuel Beckett).

Text: PANAJOTA PANOTOPOULOU