„Mir kommen keine Weiber mehr ins All!“
Walentina Tereschkowas Weg
in die Erdumlaufbahn
Ich nannte meine Tochter Walentina, ohne zu wissen, dass die erste Frau im All so heißt. Später wunderte ich mich, wie das passieren konnte, obwohl ich mich von Kindheit an für Raumfahrt interessierte. Schon als Kind zeigte mir mein Vater die Sterne. Wir hatten viele Bücher über Raumfahrt im Haus. Es war die Zeit der Apollo-Flüge, in der noch alles möglich zu sein schien.
Anfangs hielt ich es für ein Versehen meinerseits. Ich durchforstete meine Bücherschränke nach Information, die mir entgangen sein musste. Doch die Suche gestaltete sich schwieriger als erwartet. In Aufbruch ins All, einem Raumfahrtkompendium (Werner Buedeler, 1982), fand ich letztlich: „Am zweiten Tag seines Aufenthalts in der Erdumlaufbahn gesellte sich ihm (Waleri Bykowski) Wostok 6 hinzu. In der Öffentlichkeit machte dieser Flug besondere Furore, denn Pilot war die erste (und bis heute einzige) Frau im Weltraum, die 26-jährige Walentina Tereschkowa.“ Auf 506 Seiten ein Absatz, weiter nichts.
Walentina (Wladimirowna) Tereschkowa,
erste Frau im All
Also erweiterte ich meinen Suchradius. In der Raumfahrtabteilung der öffentlichen Bücherei spuckte die Stichwortsuche nicht ein einziges Buch aus. Die manuelle Suche erbrachte rund zehn Sätze in einem Raumfahrtlexikon. In vielen Auflistungen über Meilensteine in der Raumfahrt kommt ihr Flug nicht einmal vor. Immerhin fand ich ein Buch in der Abteilung über Frauen mit ganzen vier Seiten über Tereschkowa (Die 100 bedeutendsten Frauen des europäischen Ostens).
Walentina (Wladimirowna) Tereschkowa war immerhin die erste Frau im All. Ihr Flug mit Wostok 6 startete am 16. Juni 1963 und dauerte zwei Tage und 23 Minuten. 19 Jahre lang war sie die einzige Frau im Weltraum. Erst 1982 startete wieder eine Russin, Swetlana (Jewgenjewna) Sawizkaja, danach flog noch eine dritte, Jelena (Wladimirowna) Kondakowa. Diese ist seit 16 Jahren die bislang letzte Russin im All. Die erste westliche Astronautin, Sally Ride, startete 1983, genau 20 Jahre und zwei Tage nach dem Erstflug Tereschkowas – ein Schelm, der das für einen Zufall hält, fand doch schon der Jungfernflug der Columbia am 20. Jahrestag des Flugs von Juri Gagarin statt. Frauen im All sind also durchaus keine Alltäglichkeit.
Grenzen der Machbarkeit ausloten
und Meilensteine in der Raumfahrt setzen
Die Idee, eine Frau ins All zu schicken, gab es schon kurz nach Gagarins Flug. Sowohl der russische Präsident Nikita Chruschtschow als auch Sergej Koroljow, Chefkonstrukteur des sowjetischen Raumfahrtprogramms, trieben das Vorhaben mit dem Ziel voran, nicht nur die Grenzen der Machbarkeit auszuloten, sondern die USA abzuhängen und einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Raumfahrt zu setzen. Nicht aber, weil sie Frauen grundsätzlich für geeignet hielten. Gesucht wurden Pilotinnen und Fallschirmspringerinnen aus bevorzugt proletarischem Umfeld, die nicht größer als 1,70 oder älter als 30 Jahre sein sollten. Damit schieden viele bestens geeignete Militärpilotinnen von vornherein aus. Es mag seltsam erscheinen, dass ausgerechnet Fallschirmspringen ein Selektionskriterium war, doch dieser Sport war relativ weit verbreitet und wurde in der Sowjetunion gefördert. Tereschkowa, begeisterte Fallschirmspringerin, war eine von fünf Bewerberinnen, die aus 400 ausgewählt wurden. Gerüchten zufolge soll sie schon mit zehn Jahren ihre ersten Sprungversuche mit einem Bettlaken gemacht haben. Auch ihre Herkunft war ideologisch gefällig: Sie stammte aus einfachen Verhältnissen und arbeitete in einem Spinnereikombinat.
Helden der Sowjetunion
Nach ihrem Flug ins All wurde sie als Held der Sowjetunion ausgezeichnet und gefeiert. Auch wenn sie auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs weniger bekannt war als Gagarin, im Osten kannte sie jedes Kind. Doch über ihren Flug erfuhr man bis zum Ende der Sowjetunion wenig. Jeder Flug wurde in den Medien als voller Erfolg verkündet, über Pannen wurde geschwiegen, und Walentina Tereschkowa wurde angewiesen, wenig über ihren Flug preiszugeben.
Die Archive wurden nach der Perestroika geöffnet und waren erstmals öffentlich zugänglich, auch die Protokolle der ersten Raumflüge. Damit ging einiges von dem Glanz verloren, den die ersten Menschen im All verbreitet hatten. So wurde bekannt, dass Juri Gagarin nicht in seiner Kapsel, sondern mit Fallschirm gelandet war, was der internationalen Konvention widersprach. Von Walentina Tereschkowa hieß es, sie habe bei ihrem Raumflug das ihr zugeteilte Programm nicht oder nur sehr mangelhaft erfüllt, stark unter Raumkrankheit gelitten, Anweisungen einfach nicht ausgeführt oder sei zu oft eingeschlafen. Somit hätte sie mehr oder weniger die Verantwortung, dass weitere 19 Jahre keine Frau ins All flog. Koroljow selbst soll geschworen haben: „Mir kommen keine Weiber mehr ins All!“ Und dabei blieb es – Swetlana Sawizkaja, die zweite Kosmonautin, hatte erst nach seinem Ableben ihre Chance, und sie hatte außerdem einen sehr einflussreichen Fürsprecher: ihren Vater, stellvertretender Kommandant der sowjetischen Luftverteidigung.
Wie kam es zu diesen Anschuldigungen? Wer bereit war, mit einem Wostok-Raumschiff zu fliegen, bewies viel Mut und verdient alleine dafür volle Anerkennung. Darin sind sich alle Raumfahrtexperten einig. Wostok war das erste Raumfahrzeug der Sowjetunion – und keineswegs ausgereift. Praktisch jeder Flug war von teils schweren Zwischenfällen begleitet.
Und solche gab es auch bei Wostok 6. Erst nach der Perestroika bekannte einer der Konstrukteure des Raumschiffes, dass der Bordcomputer nicht richtig programmiert war. Der Programmfehler hätte dazu geführt, dass die Landung nicht automatisch einleiten zu können, und die Kapsel wäre weiter ins All hinausgedriftet. Zur Behebung wurden Tereschkowa über Funk neue Daten zugeschickt, die sie in den Bordcomputer eingeben sollte. Nach dieser Korrektur konnte die Landung wie geplant stattfinden. Dass diese Panne möglicherweise eine entsprechende psychische Belastung ausgelöst haben mag, ist eher wahrscheinlich.
Der Fehler hätte übrigens nicht notwendiger-weise ihren sicheren Tod bedeutet. Nach dem Motto „Runter kommen sie alle“ hätte Restatmosphäre die Kapsel abgebremst und sie in dichteren Luftschichten selbständig (ballistisch) ausgerichtet. Wann und wo – über Festland oder im Meer – wäre nicht steuerbar gewesen. Tereschkowa hätte unter diesen Umständen unbestimmte Zeit im All verbracht, der Proviant aber war auf zehn bis zwölf Tage begrenzt.
Dass sie stark unter Raumkrankheit gelitten haben soll, dürfte richtig sein. Das war aber keineswegs ungewöhnlich. Auch ihr Kollege German Titow berichtete nach seinem Flug über starke Übelkeit. Er handelte sich für seine Ehrlichkeit jedoch Schwierigkeiten ein und hatte Erklärungsbedarf. Übelkeit oder andere Pannen gaben alle anderen nur dann zu, wenn es einfach nicht zu vermeiden war. Also so
gut wie nie.
Die Frauenfeindlichkeit in der Raumfahrt war auch in den USA nicht weniger groß, auch dort gab es den Plan, eine Frau mit dem gleichen Ziel ins All zu schicken: ein „erstes Mal“ zu erreichen. Unter dem Namen Mercury 13 wurden Pilotinnen ausgewählt und denselben Tests unterzogen wie die männlichen Mercury-Kandidaten, teilweise schnitten sie sogar besser ab. Leider wurde das Programm eingestellt, und keine der Kandidatinnen flog je ins All. Erst die Missionsspezialistin Sally Ride war die erste US-Amerikanerin im Weltall.
Ausdauer und Konzentration
Sind Frauen weniger gut für die Raumfahrt geeignet als Männer? Davon kann keine Rede sein. Im Weltall braucht man nicht besonders kräftig zu sein. Bei monotonen Arbeiten zählen Ausdauer und Konzentration wesentlich mehr. Darin sind Frauen den Männern gewöhnlich überlegen und möglicherweise weniger anfällig für Raumkrankheit. Bisher waren jedoch zu wenige Frauen im All, um dies mit Sicherheit belegen zu können.
Frauen haben in der Raumfahrt inzwischen Fuß gefasst. 2005 steuerte Eileen Collins als erste Kommandantin die Raumfähre Discovery, und die Geschicke der Internationalen Raumstation ISS wurden während der Expediton 16 von der Kommandantin Peggy Whitson geleitet. Jelena Olegowna Serowa wurde als vierte Russin für einen Flug zur ISS selektiert, der 2014 geplant ist. Heute, wenn meine Tochter nach ihrem Namen gefragt wird, sagt sie stolz: „Ich heiße Walentina – wie die erste Kosmonautin!“
Text: MARIA PFLUG-HOFMAYR
SPUTNIK PRODUKTION
Dank an: Gerhard Kowalski und
Jacqueline Myrrhe