Was nicht gesagt werden kann

Salah Ammo musste seine Heimat Syrien verlassen. Aus England wurde der studierte Musiker aufgrund des Dubliner Abkommens abgeschoben – und landete in der Erstaufnahmestelle Traiskirchen, Niederösterreich. Seine Familie, sein Beruf, seine Identität – alles schien sich aufzulösen. Es gab eine Zeit, in der er gerne sein Gedächtnis verloren hätte. Nur die Musik hielt die guten Erinnerungen fest. Heute tritt der Buzuk-Spieler und Sänger mehr auf, als ihm lieb ist – in Clubs genauso wie im Burgtheater oder Wiener Konzerthaus. QUER-Chefredakteurin Doris Lippitsch und Luise Wolf baten ihn nach seinem Auftritt mit der DD-Band beim diesjährigen Wiener Flüchtlingsball zum Gespräch.

Doris Lippitsch: Wie geht es dir jetzt?

Salah Ammo: Gut! Nach dem Konzert hat man viel Adrenalin!

D. L.: Gibst du viele Konzerte?

Ja, eigentlich zu viele. Musik zu spielen heißt für mich nicht nur zu zeigen, was ich kann, dabeiöffne ich mein Herz und meine Seele. An den Texten arbeite ich als Sänger wirklich aus meinem Innersten heraus, live gesungen ist das dann sehr intensiv. Man gibt sich auf der Bühne aus. Nach einem Konzert, nach ein oder zwei Tagen, musst du diese Energie wieder irgendwo herausschlagen. Wenn du viel spielst, musst du genau das üben. Ich meditiere, bin viel zu Hause oder gehe in die Natur.

Luise Wolf: Ist es leichter für dich im arabischen Raum zu spielen?

Es ist leichter, weil die Hörer die Texte und die Geschichten der Lieder kennen und verstehen. Die Texte sind in der arabischen Musik sehr wichtig. Ich kann die Gesichter der Hörer lesen, wenn ich da singe. Hier in Europa schauen die Leute nachdenklicher, da ist mehr Bewertung im Spiel. Ich muss sehr viel mehr geben – Mimik, Körpersprache – um ihnen zu vermitteln, was die Musik ausmacht.

D. L.: Deine Anfänge in der Musik?

Die Musik kam auf sehr natürliche Weise zu mir. Als ich ein kleines Kind war, hatte ich bereits vier Geschwister. Meine Vater war beim Militär, das reichte nicht zum Leben. Meine Mutter musste auf einer Farm arbeiten, um uns zu ernähren, und sie hatte keine Zeit, auf uns aufzupassen, also band sie mich um ihre Brust und sang während der Arbeit. Ich erinnere mich zwar nicht bewusst an diese Momente, aber später, wenn ich diese Lieder hörte, fühlte ich mich wirklich Zuhause, sie gaben mir Frieden. Mit vier oder fünf Jahren begann ich dann selbst zu singen. Mit dem Studium begann ich mit 18 Jahren. Davor habe ich viele Einflüsse aufgenommen und auch viele Sprachen ...

L. W.: Du bist in einer kurdischen Familie im Nordosten Syriens, in Darbasiyah, einer sehr multikulturellen und -religiösen Region aufgewachsen. Was hast du als Künstler verloren und was hast du hier gewonnen?

Musikalisch habe ich nichts verloren. Doch ich habe mein Land verloren. Meine Mutter und meine Geschwister habe ich zuletzt vor sechs Jahren gesehen. Ich vermisse den Geruch auf den Straßen und vieles andere. Als Musiker sauge ich vieles auf. Aber eigentlich denke ich über das Leben nicht im Sinne von Gewinn oder Verlust nach. Das Leben ist eine Reise. Freude liegt darin, das Leben zu erfahren, es kennenzulernen. Freude ist kein Selbstzweck. Denn traurige Dinge geschehen und auch darin kann eine Kraft liegen – du spürst dich selbst und sie lehren dich etwas. Ich habe diese Lebensweise nicht gewählt. Ich will kein Flüchtling sein, ich wollte mein Land nicht verlassen müssen. Aber ich akzeptiere es. Das Leben hat so entschieden.

Portrait Salah Ammo ©Manfred Werner

Foto: © Zvetan Lalov
 

D. L.: Du strahlst sehr positiv, aber du hast auch sehr viel Trauer in dir!

Es ist mehr als Trauer, das kann man mit Worten nicht beschreiben. Stelle dir vor, dein Auto wird gestohlen und – oh nein – deine Geldbörse und dein Smartphone waren auch im Wagen! Das macht dich verrückt. Aber dann stelle dir zum Vergleich vor, du verlierst dein Zuhause, deine Familie, deine Nachbarschaft … Ich kenne Menschen, die zusehen mussten, wie ihre Kinder getötet wurden. Auch ich hatte in Syrien ein erfülltes Leben – meine Familie, meine Band. Wir waren ziemlich gut und sehr bekannt, hatten viele Konzerte. Ich spielte auch oft in Europa. Ich war frei. Und dann stehe ich plötzlich im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen in einer Schlange, eine Stunde lang, für eine kleine Suppe. Das hat eine Menge in mir angerichtet. Aber ich habe mich damit auseinandergesetzt – habe mich mit mir selbst auseinandergesetzt. Ich hatte immer eine positive Einstellung zum Leben, aber heute bin ich sogar noch positiver eingestellt. Ich habe mich über die kleinen Dinge gefreut; etwa das klare, gute Wasser in Österreich. Hätte ich mich nicht auf die positiven Dinge im Leben konzentriert, hätte ich das niemals überstehen können.

D. L.: Wann hast du dich dazu entschlossen, Syrien zu verlassen?

Ungefähr 2012, da war die Situation schon seit acht oder neun Monaten sehr schlimm. Viele Leute hungerten oder starben. Ich habe Syrien für meinen Master in Ethnomusikologie an der Cardiff University in Wales verlassen. Die School of Oriental and African Studies wollte, dass ich unterrichte; ich hatte dort also Aussicht auf eine gute Zukunft. Dann wurde ich eines Tages von Polizisten direkt von der Uni abgeholt und ins Campsfield (House Immigration Removal Centre) gebracht – aufgrund des Dubliner Übereinkommens, hatte ich doch bereits ein österreichisches Visum. Ich wurde ins Erstaufnahmezentrum nach Traiskirchen gebracht und sollte nicht einmal meine persönlichen Dinge mitnehmenund sagte: „Ich brauche mein Instrument!“ Letztlich durfte ich dann meine Buzuk und einen kleinen Koffer mit meinen wichtigsten Dokumenten mitnehmen.

L. W.: Wie hast du dich dann gefühlt?

Du bist eine Journalistin. Nun stelle dir vor: Man schickt dich in ein anderes Land – sagen wir Südkorea – weil in Europa etwas Schlimmes passiert ist. Du sprichst die Sprache nicht und kennst das Land überhaupt nicht und da sind tausende andere wie du. Könntest du dich dann noch als Journalistin identifizieren? Du wirst zu einem Niemand. Du verlierst deine Identität. Und bei den Aufnahmegesprächen im Heim bist du nur eine Nummer.

D. L.: Hast du in dieser Zeit Musik gemacht?

Ja, jeden Tag. Ohne die Musik wäre ich verloren gewesen. Die Musik konnte mir sagen, wer ich bin. Denn die Musik kennt mich. Es gab eine Zeit, da wollte ich mein Gedächtnis verlieren. Aber die Musik hat mich an die guten Momente erinnert – meine Träume und den Gesang meiner Mutter.

D.L.:Wie ist die DD-Band entstanden?

Aus purer Freude und zum Tanzen! Es ist wie Meditation – Atmen und sich Spüren. Wenn du einige Zeit Dabke tanzt, fühlst du dich in Frieden. Dies Musik bringt Menschen zusammen. Ich habe das in Clubs in Österreich erlebt, in denen wir spielten. Syrer waren nie dort, sie kamen zu unseren Konzerten und dann immer wieder.

Die kurdische Musik war im öffentlichen Leben, in der Schule, im Theater, verboten ... Nur zu Hause oder auf Hochzeiten hatten wir unsere kurdischen Texte und unsere Musik. Die DD-Band bringt mich zurück an diesen Ort.

Das ist auch ein Grund, weshalb ich neben der ernsthaften Musik auch die traditionelle kurdisch-arabische Tanzmusik mit der DD-Band mache, Dilan und Dabke, und wir diese mit Dance Music verbinden, die ich vermisste! Darum gibt es die DD-Band.(Anm. d. Red.: Dabke-Tänzer nehmen sich an die Hand und bilden eine Reihe. Es werden immer wieder Weltrekorde für den längsten und größten Dabke-Tanz aufgestellt – zuletzt im Sommer 2011 im Libanon zum Dhour El Choueir Summer Festival. Dort tanzten 5.050 Menschen in einer Reihe den Dabke.)

In Zusammenarbeit mit dem Integrationshaus Wien.

Salah Ammo wurde 1978 in Darbasiyah, Syrien, geboren. 2004 schloss er die Musikhochschule in Damaskus ab und arbeitete daraufhin als Bouzouki-Spieler, Komponist, Sänger und Tutor an der Musikfakultät von Homs. Mit der Joussour Group for Music and Singing trat er in vielen arabischen und europäischen Ländern auf. Seit 2013 lebt er in Wien. Sein aktuelles Album Assi wurde für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert. 2014 war er mit seinem Duo im Finale des Austrian World Music Award. Sein neuestes Projekt, die DD-Band, verschmilzt traditionelle kurdisch-arabische mit europäischer Tanzmusik. DD steht für Dilan – Tanz auf Kurdisch – und Dabka – Tanz auf Arabisch.

Titelbild: © Manfred Werner