„Europa hat ein Strukturproblem“

Handel schafft Bewegung. Die Kaufkraft ist unverändert hoch, dennoch ist die Besuchsfrequenz rückläufig. Der stationäre Handel ist im Umbruch. QUER unterhielt sich mit Silvio Kirchmair, Vorsitzender der Geschäftsführung Umdasch Shopfitting Group, über kommende Entwicklungen im stationären Handel, zunehmende Geschäfte im Internet und darüber, warum sich Europa langsamer von der Krise erholt als vergleichsweise die Vereinigten Staaten.

Der stationäre Handel spürt heute in manchen Branchen einen bedeutenden Rückgang. Seit einigen Jahren beobachten wir ein zunehmendes Sterben von Städten. Warum?

Die Nachfrage fehlt und Flächen werden geschlossen. Wir können das gegenwärtig in vielen Bezirksstädten beobachten, dort werden Geschäfte in B- und C-Lagen geschlossen. Ein warnendes Beispiel ist Detroit nach dem teilweisen Rückzug der Autoindustrie. Viele Menschen wandern ab, und Gebäude stehen leer. Das führt dazu, dass Mieteinnahmen und als Folge Steuern fehlen und städtische Strukturen nicht mehr finanziert werden können.

Noch nie war so viel Geld im Umlauf wie heute. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Die Kaufkraft geht nicht zurück, das Ausgabenverhalten ändert sich aber. Als Reaktion reduzieren viele Handelsunternehmen ihre Investitionen in stationäre Läden, nicht zuletzt auch, weil weitere Distributionskanäle – Stichwort „Omnichannel“ – erschlossen werden müssen. Die öffentliche Hand kann den Konsum nicht weiter ankurbeln. Dabei spielt auch die Altersstruktur einer Volkswirtschaft eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zu anderen Regionen, wie zum Beispiel Nordamerika, Asien und Afrika, fällt Europa hier zurück. Europas Wirtschaftskraft bzw. Kapitalstock wurde gewissermaßen über hunderte von Jahren aufgebaut, jetzt fällt es uns zunehmend schwer, dieses Vermögen zu erhalten. Nach der Lehman-Pleite 2008 erholte sich Europa im Gegensatz zu den USA nur langsam. Das liegt auch an der durchschnittlich jüngeren US-Bevölkerung und an ihrer höheren Schuldentragfähigkeit. Während der europäische Durchschnittsbürger eine Schaffensperiode von gut 20 Jahren vor sich hat, liegt dieser Wert anderswo bei bis zu 40 Jahren. Die Kosten für die Pensionsvorsorge spielen also in Europa eine bedeutende Rolle, wir müssen für die Zukunft in höherem Maße vorsorgen als andere, das drückt die Konsumlust. Europa hat ein Strukturproblem.

Umdasch Shopfitting ©Umdasch Shopfitting

Nach der Lehman-Pleite wurden in den USA rund neun Millionen Häuser zwangsversteigert. Warum haben sich die Staaten nach 2008 dennoch schneller als Europa von der Krise erholt?

Das hat stark damit zu tun, dass Kredite in den Vereinigten Staaten anders strukturiert sind. Das Haus ist der Schuldner, nicht der Kreditnehmer wie in Europa. Keine Frage, es ist für Menschen nach einer Zwangsversteigerung auch in den USA schwierig, wieder einen Kredit zu erhalten, aber Zwangsversteigerung in den USA heißt zumeist nicht Delogierung und Verlust der Unterkunft, bei uns schon. Nicht zu vergessen ist die amerikanische Lebenseinstellung. Man steht dort nach Rückschlägen wieder schneller auf.

Zurück zum Handel: Weil der Rückgang der Frequenz im Handel spürbar ist, denken alle Unternehmen nach und suchen Antworten auf die Fragen: „Wie kann die Conversion-Rate erhöht werden? Welche verkaufsunterstützenden Maßnahmen können getroffen werden?“ Bei den Lösungsansätzen steht an erster Stelle das Personal, an der zweiten die Lage, an der dritten das Sortiment und erst an vierter Stelle kommt die Präsentation der Ware.

Der Lebensmittelsektor und das Premiumsegment entwickeln sich tendenziell gut, Schwierig ist es mit der Mode. Dieser Sektor zeigt seit 2008 stark rückläufige Tendenz. Viele Marken sind davon betroffen und manche werden das mittel- bis langfristig nicht überleben.

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Wie verhält sich dazu der Online-Handel? Wie stark ist diese Konkurrenz?

Der Anteil des Online-Handels über alle Branchen liegt in Europa aktuell bei etwa 10–12 Prozent. Jährlich legt der Einkauf im Netz um rund 20 Prozent zu. In 10-15 Jahren werden 25–30 Prozent des gesamten Handels ins Netz verlagert sein. Im Lebensmittelhandel werden wir allerdings nach meiner Einschätzung kaum mehr als 10 Prozent sehen, im Buchmarkt hingegen deutlich über 50 Prozent.

Wie hoch ist der Anteil der Konsumenten, der in das Luxussegment investiert?

Rund 25 Prozent der Konsumenten in entwickelten Volkswirtschaften suchen Qualität und legen Wert auf hochwertige Produkte, die können sich das auch leisten. Vor zehn Jahren lag die jährliche Wachstumsrate im Luxussegment bei 5–10 Prozent, heute beträgt sie 0–5 Prozent, je nach Teilmarkt.

Geschäftsflächen werden kleiner, muss folglich die Flächenproduktivität signifikant steigen?

Ja, das gilt als Grundregel. Das bedeutet, alle Leistungen, die nicht kundenbezogen sind, wie das Sortieren von Ware usw., neu zu strukturieren. Wir bieten die Technologie, das zu ermöglichen. Heute gibt es erste Testfilialen, wo schon mit Smartphone bezahlt werden kann, ohne an der Kassa Schlange stehen zu müssen. Der Kunde passiert eine Schranke und ein in das Gerät integrierter Chip erfasst die Ware. Das ist technologisch bereits heute möglich, die Kosten für die Chips sind allerdings noch recht hoch. Jedenfalls wird der Zahlungsvorgang in den nächsten Jahren automatisiert werden.

Elektronische Preisauszeichnung ist ein weiteres Beispiel für die Digitalisierung des Handels, das Verkaufspersonal muss keine Zeit mehr für die „wertlose“ Tätigkeit der Preisauszeichnung aufwenden und gewinnt Zeit für die Kunden. Wir investieren massiv in dieses Segment.

2015 wurde Umdasch Shopfitting (France) der POPAI Global Award für die Marke ETAM in der Kategorie Commercial Architecture verliehen. Welche Trends zeichnen sich ab, wie entscheidend sind Architektur, Farben und Leitsysteme für das Konsumverhalten?

Sehr wichtig für den Erfolg eines Geschäftes ist die Gestaltung einer angenehmen Atmosphäre, die einlädt, Lebenszeit für den Aufenthalt zu investieren. Architektur und Gestaltung spielen da eine wesentliche Rolle. Regale und Möbelsysteme werden generell schlanker und weniger sichtbar. Die Farben sind zurückhaltend und neutral. Im Vordergrund steht mehr und mehr die Ware bzw. die Leistung.

Welchen Stellenwert hat die Innenarchitektur? Arbeiten Sie mit Designern bzw. Architekten?

Innenarchitektur hat eine große Bedeutung. Wir arbeiten mit Architekten sehr gerne zusammen, in vielen Fällen als Erfüllungshilfe oder Möglichmacher.

Wie konsumtreibend wirkt das Zusammenspiel von Farben, Raum und Corporate Identity?

Architektur hat für den Handel die Aufgabe, Räume kundenorientiert zu gestalten. Generell korreliert die Verweildauer mit dem Umsatz. Diese Kennzahl zu erhöhen ist oft das Ziel. Unsere Kunden bzw. Auftraggeber messen die Frequenz und Verweildauer in einem neuen Geschäft. Wird ein neuer Shop eröffnet, erhöht sich automatisch die Frequenz. Entscheidend ist aber, ob die Frequenz nach einigen Monaten immer noch höher ist.

Nike ist ein Unternehmen, das zum Beispiel nur eine Handvoll Geschäfte in Ballungsräumen wie Barcelona, Paris oder London betreibt. Jeder Shop ist anders gestaltet, aber mit immer wiederkehrenden Design-Elementen. Für Nike ist Innenarchitektur eine tragende Säule des Erfolgs, das Logo selbst wird eher zurückhaltend eingesetzt. Grundsätzlich gilt: Je hochwertiger eine Marke, desto zurückhaltender ihr Auftritt.

Gestalten Sie auch mittelständische Geschäfte und Kleinbetriebe?

Wir sind grundsätzlich demütig und deshalb für jeden Kunden da. Kleinaufträge gestalten sich allerdings unternehmerisch schwierig, da wir industriell organisiert sind. Hier ist der lokale Tischler im Vorteil.

Umdasch Doha Airport ©Quer

Welche Bedeutung messen Sie Flagshipstores bei?

Sie sind wichtige Transporteure der Imagekomponenten einer Marke, sie haben eine Marketingbedeutung und finanzieren sich teilweise über Umwegrentabilität. Auch Amazon und Zalando werden Flagshipstores an prominenten Stellen haben, davon bin ich überzeugt, weil sie nur so Bilder in den Köpfen der Kunden kreieren und, im wahrsten Sinne des Wortes, begreifbar sein werden.

Wie sehen Sie die Zukunft des stationären Handels?

Der stationäre Handel wird nicht verschwinden. Der Dienstleistungsanteil wird jedenfalls steigen, Gastronomie im Einzelhandel ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Die volkswirtschaftliche Bedeutung des stationären Handels ist enorm. Ich fürchte allerdings, dass die Mitte der Märkte weiter erodieren wird und diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Dort, wo lokale Kaufkraft und Tourismus zusammenkommen, wird stationärer Handel auf alle Fälle funktionieren. Dort, wo die lokale Kaufkraft alleine ausreichen muss, könnte es eng werden.

In diesem Fall werden die Volkswirtschaften Strategien entwickeln, den daraus entstehenden Schaden zu minimieren, vielleicht auch in Form von neuen Steuern auf Internettransaktionen.

Letztlich zeigt sich das volkswirtschaftliche Potenzial im öffentlichen Raum. Funktioniert der öffentliche Raum, geht es einer Community gut.

 

Das Gespräch führte Doris Lippitsch.


Silvio Kirchmair ©Silvio Kirchmair

Silvio Kirchmair, Mag., geb. 1961 in Linz, studierte Betriebswirtschaftslehre, war zunächst in der Internorm AG als Marketing- und Vertriebsleiter und ab 1989 in der Geschäftsführung tätig. 1992 geschäftsführender Gesellschafter der TMI-Time Manager International GmbH. 1993–1996 Mitglied des Vorstandes der Actual Fenster AG, 1996–2005 Geschäftsführer in Tochtergesellschaften der Constantia Industries AG und 2005–2013 Geschäftsführer im Hoerbiger Konzern. Seit 2013 ist Kirchmair Vorsitzender der Geschäftsführung der Umdasch Shopfitting Group.

 

[Bildtext: Bei Flughafenshops hält Umdasch Shopfitting weltweit einen Marktanteil von ca. 15 Prozent und ist in diesem Segment führend. Wenn man von den Betreibern die Sicherheitszulassungen erlangt, ist man in diesem Netzwerk. Der bis dato größte Duty Free Shop wurde 2012/13 in Doha, Katar, realisiert.]

Fotos: Umdasch Shopfitting