Strukturwandel im Reich der Mitte

Die chinesische Regierung sieht vor, 700 Millionen Chinesen, die heute in ländlichen Gebieten leben, bis 2030 in Städten anzusiedeln. Über eine Milliarde Chinesen lebt dann in Städten, um das neue Wirtschaftsmodell zu stärken. David Pasek hat sich mit dem Architekten John Lin unterhalten, der in Hongkong versucht, mit seinem Rural Urban Framework Studio (RUF) genau dort anzusetzen, wo sich diese massiven Veränderungen nachteilig für das Leben in ländlichen Gebieten auswirken. Mit seinem „House for All Seasons“ überzeugte Lin die Jury des diesjährigen Wienerberger Brick Award in der Kategorie Residential Use.

von DAVID PASEK

Rural Urban Framework
John Lins "House for All Seasons" in der chinesischen Provinz Shaanxi ist die zeitgenössische Interpretation eines traditionellen chinesischen Hofhauses, das von einer durchlässig geschlichteten Ziegelwand zu einem Quader gefasst ist. Das Haus wurde als Prototyp finanziert.

House for All Seasons ©Wienerberger AG
John Lins Prototyp House for All Seasons in der chinesischen Provinz Shaanxi für autarke Lebensweise – Siegerprojekt beim Wienerberger Brick Award ’14 in der Kategorie Residential Use. Verwendet wurden traditionelle Materialien wie Lehmziegel; die Innenhöfe verbinden Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer miteinander, auf dem Dach wird Fleisch getrocknet und Regenwasser gesammelt. Fotos: Wienerberger AG

Genau an dieser Stelle setzt das von John Lin, 38, gegründete Rural Urban Framework Studio, RUF, an. Im Dialog werden kommunale Projekte entwickelt und gemeinsam mit der Dorfgemeinschaft errichtet: meist Schulen, Gemeindezentren, Spitäler, aber auch Brücken. Die Projektentwicklung erfolge auf kommunaler Ebene in verschiedenen Workshops gleichberechtigt und demokratisch, betont Lin. Das Ergebnis sind maßgeschneiderte Lösungen, aber auch überraschende Nutzungskombinationen. Oft werden bestehende Gebäude weiter gebaut oder umgenutzt, und wenn nicht anders möglich, wird zumindest ein Teil des Baumaterials wiederverwertet oder auch vor Ort hergestellt. Dafür eignet sich natürlich oft der Ziegel, der jedes Bauwerk in einem besonderen Verband oder mit eigener Farbgebung einzigartig macht.

House for All Seasons, Detailansicht ©Fotos: Wienerberger AG
House for All Seasons, Detailansicht: durchlässig geschlichtete Ziegelwand, zu einem Quader zusammengefasst ©Wienerberger AG

Lin, ein professioneller Migrant
Der gebürtige Taiwanese bezeichnet sich selbst als „professionellen Migranten“ und damit im Vorteil: „Es ist wichtig, von außen zu kommen, um Lokales schätzen zu können. – Ich glaube nicht, dass jemand, der in einem Dorf aufwächst und dort zu arbeiten beginnt, auch innovativ sein kann.“ Als Lin acht Jahre alt war, zog seine Familie von Taiwan in die USA, wo er – mit kurzer Unterbrechung und Exkursion in die Medizin – Architektur an der Cooper Union studierte. Durch Zufall begann seine akademische Karriere in Dänemark, mit einer Dänin brach er kurze Zeit später mit einem One-Way-Ticket nach Hongkong auf. 2006 folgte eine lange Reise durch China,  darunter in ein kleines Dorf an der Grenze der Provinzen Guangdong and Guanxi. Die abwechslungsreiche Landschaft faszinierte ihn so stark, dass Lin gemeinsam mit Joshua Bolchover eine ungewöhnliche Fakultät für Architektur an der Universität Hongkong gründete, um die Veränderungen in den ländlichen Gebieten Chinas zu untersuchen, aber auch, um dort gezielte, wohlüberlegte Eingriffe zu unternehmen: das  Rural Urban Framework Studio, RUF. Das Studio ist kein klassisches Architekturbüro. RUF ist Non-Profit-Partner von Gemeinden, Kommunen und Regionen, wenn große und komplexe Projekte realisiert werden. Forschungsobjekte sind demnach nicht die Gebäude selbst, sondern deren Auswirkung auf die ländlichen Kommunen.

Mulan Primary School ©Rural Urban Framework, RUF, Hongkong
Mulan Primary School ©Rural Urban Framework, RUF, Hongkong

Aktionistischer Staatsplan für Urbanisierung bis 2030
Das einstige Agrarland China soll zur gigantischen Stadtlandschaft werden. Von 1978 bis heute erhöhte sich die Zahl chinesischer Millionenstädte von 29 auf 142. Rund 730 Millionen Chinesen leben heute in Städten, das sind 53,7 Prozent der Bevölkerung. Der neu gewählte Premier Li Keqiang hat nun den „Staatsplan für (neuartige) Urbanisierung 2014 bis 2020“ verordnet, um die Binnennachfrage im Reich der Mitte anzukurbeln. Unterentwickelte Mittelstädte in Westchina sollen urbanisiert werden. Nur so kann das neue Wirtschaftsmodell funktionieren. Der Investitionsbedarf für Bauwesen und Infrastruktur wird mit 5,3 Billionen US-Dollar beziffert. Während die Weltbank vor dem Kollaps der Infrastruktur warnt, werden in den kommenden Jahren weite Bevölkerungsteile Chinas in Städte umgesiedelt. Dieser Prozess läuft zwar schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde aber in den letzten Jahren deutlich beschleunigt. Dabei wählt ein Chinese nicht selbst, wo er lebt. Darüber entscheidet der Geburtsort, der im Hukou-Register erhoben wird, ein Relikt der Mao’schen Planwirtschaft. Rund 700 Millionen Chinesen werden in den nächsten Jahren in Städte abgesiedelt, und finanzielle Mittel zunehmend in Immobilien auch auf dem Land investiert. Eine Folge ist paradoxerweise, dass chinesische Dörfer trotz folgenreicher Abwanderung manchmal dichter bebaut sind als Städte, jedoch nicht ­reguliert.

Mulan Primary School ©Rural Urban Framework, RUF, Hongkong
Mulan Primary School ©Rural Urban Framework, RUF, Hongkong

Transforming the Chinese Countryside
Die Rechte der Bauern sind und bleiben bescheiden: Für Agrarflächen erhalten Bauern lediglich Nutzungsrechte, die jederzeit entzogen werden können, was zum sofortigen Verlust der ohnehin dürftigen sozialen und gesundheitlichen Absicherung führte. Nun treffen die verschiedensten Interessen von Bauern, Investoren, Fabriksbesitzern und der kommunalen Verwaltung aufeinander. War es traditionell üblich, die Gebäude selbst oder mit Nachbarschaftshilfe zu errichten, werden heute immer öfter Baufirmen mit einem Bau beauftragt. Die rund 300 Mio. Wanderarbeiter bringen zusätzlich erlernte Bautechniken aus den Städten mit, die die ländliche Strukturen gravierend verändern. Kernaufgabe von RUF ist neben der Forschung und Umsetzung von Modellprojekten auch die Dokumentation und Vermittlung der Ergebnisse sowie eine rege Ausstellungstätigkeit Lins.

2013 ist bei Birkhäuser „Rural Urban Framework – Transforming the Chinese Countryside“ erschienen, das John Lins wichtigste Projekte präsentiert und sich auch den Mechanismen dahinter widmet. Den Untertitel findet Lin zwar reißerisch, gleichwohl ist er aber zuversichtlich, dass diese Ansätze einen breiteren Zugang in die Praxis finden werden. Damit wäre millionenfach gewonnen.

In Zusammenarbeit mit Wienerberger

Ausgezeichnete Ziegelarchitektur International, Callwey Verlag, München, 2014 ©Archiv       John Lin, Birkhäuser Verlag, 2013 ©Archiv
Ausgezeichnete Ziegelarchitektur International, Callwey Verlag, München, 2014 (links); John Lin, Birkhäuser Verlag, 2013