Die Erfindung des Orgastotrons
Territorien des Begehrens: Von Planung und Bau schwuler Begegnungsräume
von UWE BRESAN
Nennen wir ihn Joachim Schäfer. Obwohl er längst seinen Ruhestand genießt, möchte der Architekt seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er kommt noch aus einer Generation, die viele Vorurteile und harte Paragraphen für einen wie ihn hatte. Und obwohl er heute im Gespräch sehr offen über sich und seine Homosexualität sprechen kann, gehörte das Verstecken und Verleugnen doch lange zu seinem Alltag. Vielleicht zu lange, als dass er seine Arbeiten der letzten Jahre nun selbst öffentlich kommentieren könnte. Fast sein ganzes Berufsleben hat er als städtischer Angestellter gearbeitet - im Hochbauamt einer jener tristen, westdeutschen Großstädte, deren Antlitz vom allzu schnellen Wiederaufbau der Wirtschaftswunderjahre geprägt ist. Es war kein anspruchsloser Job. Aber als Baubeamter gibt es für die eigene Kreativität nur wenig Spielraum. Planen und Bauen, das machen die anderen, während man selbst nur prüft, genehmigt, ablehnt. So begann die Karriere als planender und bauender Architekt erst nach der Pensionierung.
Schäfers erster Auftrag
Der erste Auftrag kam von einem befreundeten Betreiber schwuler Saunen. Solche Einrichtungen gibt es in jeder größeren Stadt. Meist verstecken sie sich hinter unauffälligen Fassaden. Nur ein kleines Türschild - mitunter auch eine Regenbogenfahne - geben einen dezenten Hinweis. Geworben wird in einschlägigen Internetforen oder den lokalen schwulen Medien. Im Inneren sind diese Orte nur entfernt mit den "Wellnessoasen" und "Saunalandschaften" verwandt, die heute das Angebot von Hotels, Schwimmbädern und Fitnessstudios bereichern und die dank künstlicher Palmen und allerlei exotischem Schnickschnack immer ein bisschen nach All-Inclusive-Billigurlaub schmecken, dem vermeintlich gestressten Großstädter aber so etwas wie Entspannung und Regeneration versprechen. Darum aber geht es in schwulen Saunen nur am Rande. Die Schwitzräume, Dampfbäder und Wasserbecken sind nicht mehr als Beiwerk und Vorwand. Sie sind ein Überbleibsel vergangener Zeiten, als vor allem öffentliche Bedürfnisanstalten und Badehäuser wie das legendäre Wiener Kaiserbründl einen geschützten Begegnungsraum für schwule Männer darstellten. Auch moderne Schwulensaunen sind solche Begegnungsorte. Sie dienen unverhohlen dem Sehen und Gesehen-Werden. Dem Voyeur bieten sie ein sicheres Versteck und dem Exhibitionisten eine Bühne. Sie sind ein Revier, in dem jeder nach Herzenslust Jäger und Gejagter sein darf. Wer dabei zueinander findet, zieht sich zurück oder lädt andere zum Zuschauen ein. Das alles funktioniert fast geräuschlos. Wenn überhaupt, so wird nur geflüstert. Das beherrschende Kommunikationsinstrument ist der Blick. Er schweift, verfolgt, signalisiert Interesse oder Ablehnung. Alles ist auf diesen Blick hin entworfen! - Aber wie?
Neuferts Bauentwurfslehre für Maß und Ziel
Mit seinem Standardwerk, der "Bauentwurfslehre", hat Ernst Neufert den Architekten für alle nur erdenklichen Aufgaben Maß und Zahl gegeben. Er hat festgelegt, wie groß ein Hasenstall, eine Hotelkammer oder die 3-Zimmer-Küche-Bad-Standardwohnung ist. Er hat die Höhe von Stuhl, Tisch und Bartresen definiert, die Lage des Gästeklos bestimmt und die Einrichtung von Schule, Krankenhaus und Kaserne geregelt. Auch Planung und Bau von Schwimmbad, Kino und Diskothek sind im "Neufert" hinlänglich erläutert. Zu den Begegnungsräumen schwuler Männer wie Club und Sauna schweigt aber auch die 40. und damit aktuellste Auflage der Bauentwurfslehre von 2012 mit ihren stattlichen 594 Seiten und ihren "6.000 Abbildungen zu allen Entwurfs-Aufgaben". Die einzige relevante Studie, die sich in der Vergangenheit mit der Gestaltung von schwulen Begegnungsräumen beschäftigt hat, stammt hingegen von dem niederländischen Architekten Jan Kapsenberg. Mitte der 1990er-Jahre entwickelte er am renommierten "Berlage Institute" unter dem Titel "Erotic Manoeuvres: Territories of Desire" die Theorie der "Erotic State Of Aggregation Domain©" - kurz: "ESOAD©".
Jagdszenen mit Bühnencharakter
Laut Kapsenberg lassen sich homoerotische Etablissements wie Clubs oder Saunen in drei räumliche Bereiche gliedern. Während die "Flanierzone" noch "unverbindliche Bewegungen und Blicke" erlaubt, sind "Blick und Bewegung" innerhalb des "Jagdreviers" bereits deutlich kanalisiert. "Gewundene Pfade" sorgen zunehmend für "intensivere Kräfte und Spannungen" zwischen den beteiligten Personen. Es lässt sich eine "wachsende Nähe" feststellen. Wer wiederum die "Kanäle" oder "gewundenen Pfade" des Jagdreviers "erfolgreich" hinter sich gelassen hat, gelangt in die "intime Zone". Die drei Bereiche "zunehmend enger Kontakte" vergleicht Kapsenberg mit den Aggregatzuständen des Wassers - von gasförmig über flüssig zu fest. Den einzelnen "Aggregation Domains" schwuler Einrichtungen und ihren Übergängen ordnet Kapsenberg dabei klare räumliche Strukturen zu. Die "Flanierzone" beschreibt er etwa als „zentral gelegene Halle", an deren Wänden sich Sitzbänke entlang ziehen. "Diese Bänke gestatten es, in allen möglichen Konstellationen zu sitzen und dabei stets den Raum im Auge zu behalten." Um den "Bühnencharakter der Szene [noch] zu verstärken und die Blicke zu vervielfachen", empfiehlt Kapsenberg die Einrichtung mehrerer Ebenen etwa in Form von Galerien. An den Durchgängen, die zu den übrigen Räumen der Anlage führen, kommt es bereits zu einer Verdichtung. Hier wird das Flanieren vom Übergang "Flanieren-Jagen" abgelöst. Das Jagdrevier wiederum, so Kapsenberg, bildet „ein labyrinthisches System aus Korridoren". Die Breite der Verkehrswege sollte "etwa anderthalb Meter" betragen. Angrenzende Nischen gewähren erste Möglichkeiten zum Übergang "Jagen-Intimität", während die eigentliche "Intimitätszone" aus "abgeschlossenen Räumen" mit einer durchschnittlichen Größe von "3 Quadratmetern" besteht. Selbst hinsichtlich der Beleuchtung trifft Kapsenberg innerhalb seines ESOAD©-Systems klare Aussagen. Während Flanierbereiche mit 200 bis 400 Lux beleuchtet werden sollten, liegt die ideale Lichtstärke für Jagdzonen bei 50 bis 100 Lux. Für die abgeschlossenen Bereiche der Intimitätszone empfiehlt Kapsenberg hingegen eine Lux-Zahl unter 25.
Intensivierung zwischenmenschlicher Interaktionen
Seit ihrer ersten Veröffentlichung - eine deutsche Übersetzung erschien 1998 in "Daidalos 69/70" - gehört die ESOAD©-Studie zur Standardlektüre für Planer schwuler Saunen und Sexclubs. Auch Joachim Schäfer, der ehemalige Baubeamte, orientiert sich bei seinen Projekten daran. Stolz präsentiert er im Interview seine Zeichnungen und die Fotos ausgeführter Saunen und erläutert anschaulich, wie er den Empfehlungen Kapsenbergs im Entwurf folgt. Das beginnt schon bei den Duschen. Drei gebogene Stahlwände, hinter denen sich jeweils zwei Duschplätze "verbergen", stehen in einer Reihe nebeneinander. Der Grundriss, in den Schäfer immer auch die möglichen Blickachsen einträgt, offenbart: Sie sind bewusst so zueinander gestellt, dass man von außen alle Duschplätze im Vorbeigehen kurz einsehen kann. Auf den Fotos wiederum erkennt man die langen Bankreihen, die gegenüber den drei Duschzellen aufgebaut sind und die in die Haupthalle überleiten. Eine Treppenlandschaft mit breiten Sitz- und Liegestufen, durch eine Säulenreihe vom übrigen Raum abgetrennt, bildet das beherrschende Element der "Flanierzone". Die strenge, weiß gekachelte Architektur weckt Assoziationen an griechische Tempelanlagen. "Feldherrenhügel" nennt Schäfer seine Erfindung, von der aus sich der ganze Raum überblicken lässt. Eine besondere Lösung hat der Architekt auch für den anschließenden "Jagdbereich" gefunden. Anstatt ein kompliziertes Wegesystem zu entwerfen, hat Schäfer den Raum in eine Art künstlichen Wald aus Metallstelen verwandelt. Wieder zeigt der Grundriss, wie das gesamte System auf Sichtachsen und Blickbeziehungen hin ausgelegt ist. Am Ende des Raumes, am Übergang zur "Intimitätszone", werden die Säulen zunehmend breiter. Dadurch verengen sich die Zwischenräume, was fast unmerklich auch zu einer Verdichtung und Intensivierung der zwischenmenschlichen Interaktionen führt. Räumlich schließt sich die so genannte "Bläsergalerie" an - wieder eine Erfindung des ehemaligen Bauamtsmitarbeiters Schäfer! Im Grundriss ähnelt die Anlage einem Bienenstock. Sechseckige Waben, die jeweils an einer Seite betreten werden können, formen ein Labyrinth. Die geschlossenen Wände wiederum besitzen kleine Öffnungen. Sie liegen in Leistenhöhe und dienen der Masturbation oder dem Oralsex zwischen anonymen Partnern. Im schwulen Jargon werden sie als "Glory Holes" bezeichnet. In der Regel beschränken sich solche Anlagen auf eine Wand mit parallel nebeneinander liegenden Öffnungen, wodurch der Aktionsradius des aktiven Partners deutlich begrenzt ist. Durch die Anordnung in sechseckigen Waben gelingt es Schäfer, die Zahl möglicher, gleichzeitiger passiver Partner deutlich zu erhöhen.
Höhepunkt Orgastotron
Um eine Intensivierung der sexuellen Kontakte geht es Schäfer auch bei seiner wichtigsten Erfindung - dem "Orgastotron". Bisher existiert das dreidimensionale Labyrinth aus gegeneinander versetzten und in die Höhe gestaffelten Sitz- und Liegeflächen nur in seinem Kopf sowie auf zahllosen Detailzeichnungen. Aber Schäfer ist sich sicher, damit den Höhepunkt eines schwulen Begegnungsraumes geschaffen zu haben. Es eröffnet unendliche Möglichkeiten der gegenseitigen sexuellen Stimulation. "Blasen / Lecken / Ficken" steht auf einer der Zeichnungen zum Orgastotron. Darüber hat Schäfer ein modernes, an der menschlichen Figur orientiertes Architekturraster konstruiert, wie es auch Ernst Neufert oder Le Corbusier zur Darstellung von Normgrößen für die Verrichtung menschlicher Tätigkeiten verwendeten. In Schäfers Raster sind jedoch keine abstrakten Hausfrauen oder gar das Ideal des "Modulors" eingeschrieben, sondern eine Reihe kopulierender Männerpaare in unterschiedlichen Stellungen: Blasen 80 Zentimeter, Lecken 40 Zentimeter, Ficken 70 Zentimeter. Auf diesen Maßen beruht Schäfers Orgastotron. Sie ordnen - wie die Maßtabellen Neuferts oder Le Corbusiers - die räumlichen Formen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens.
Fotos: Phoenix Saunen
Zeichnungen: Joachim Schäfer