"Jeder Raum hat seine eigene Melodie"

Im deutschsprachigen Raum lange unterschätzt, gilt Alvin Lucier in den USA schon lange als der bedeutendste Avantgarde-Musiker des 20. Jahrhunderts. Mit Weggefährten wie John Cage veränderte er das musikalische Bewusstsein grundlegend: Durch elektronische Klangerzeugung hat er Architektur zum Klingen gebracht, bis dato unhörbare Klänge hörbar gemacht und die physikalischen Kräfte des Klanges selbst untersucht. So hat er poetische, mystisch klingende Werke geschaffen. Luise Wolf im Gespräch mit Alvin Lucier.

Luise Wolf: Über Ihr Stück I Am Sitting In A Room sagten Sie einmal: „Jeder Raum hat seine eigene Melodie.“ Was meinen Sie damit?

Alvin Lucier: Wenn du am Morgen in der Dusche singst, klingt deine Stimme voluminöser, weil die Dimensionen des Raums, in dem du stehst, manche Frequenzen verstärken. Jeder Ton ist eine Welle bestimmter Größe. In einem Raum mit seiner spezifischen Architektur, seiner Höhe und Länge, werden eben diese Wellen verstärkt, die in den Raum „passen“. Stelle dir dazu vor, du bist in einem Pool: Wenn du dich bewegst, werden bestimmte Wellen, die diese Bewegung schlägt, verstärkt, und andere „gehen unter“. Die Töne, die in einem Raum klingen, beherbergen immer auch dessenArchitektur.

Und das haben Sie in diesem Stück gezeigt, nicht?

Ja, in I Am Sitting In A Room habe ich diesen Umstand allein durch die Aufnahme meiner Stimme gezeigt. Darin erzähle ich schlicht, was im Stück geschieht: Ich sitze in einem Raum … Ich nehme den Klang meiner Sprechstimme auf Tonband auf und werde die Aufnahme wieder und wieder in den Raum zurückspielen, bis die Resonanzschwingungen des Raums sich selbst verstärken … Was Sie dann noch hören, sind die natürlichen, durch die Sprache gegliederten Resonanzschwingungen des Raums. Ich wollte in diesem Stück nichts verstecken. Normalerweise verstecken Komponisten so viel, wissen Sie? Aber ich wollte zeigen, was ich da tat. Jeder Raum hat aufgrund seiner physischen Dimensionen sein eigenes Repertoire an Frequenzen. Am Ende der Aufnahme kann man die wachsenden Resonanzen des Raums selbst hören – eine Art Melodie.

Diese Melodie klingt mystisch, obgleich Sie hier so technisch vorgehen. Finden Sie Inspirationen im Alltag, in der Stadt?

Ich höre nicht mehr als jeder andere auch, oder … Ich bin mir nicht sicher. Ich höre viele Reflexionen und Echos. Letztens stand ich in einem Laden in der Nähe einiger Vasen. Ich konnte die Gespräche der Menschen im Raum in diesen Vasen widerhallen hören. Aber das sind ganz bestimmte Momente, in denen ich so aufmerksam bin.

Sie komponieren seit den 1950ern …

Ich werde in einem Monat 86, – ist das zu fassen?

Fühlt es sich merkwürdig an, in solch einem hart-kantigen Techno-Bunker zu spielen?

(Lacht) Ich mag es sehr gern.

Alvin Lucier zu Gast im Kraftwerk Berlin. © Foto: Camille Blake

Der US-amerikanische Avantgarde-Musiker Alvin Lucier zu Gast im Kraftwerk Berlin.
Dystopische Szenerie, Berliner Festspiele ‚MaerzMusik‘ 2017, „The Long Now“ / Foto: © Camille Blake
 

Also, da Sie schon so lange auftreten: Wie haben sich die Räume, die Klangarchitekturen im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Räume sind auch heute noch meist rechteckig. Einmal trat ich im MOMA in New York in einem Raum auf, der eine konkave Wand hatte, und diese schien die Töne auf eine bestimmte Art und Weise zu bündeln. Aber normalerweise sind die Aufführungsräume für Musik die, die sie schon immer waren. Früher dachten wir Musiker noch, wir würden für die elektronische Musik ganz spezifische Räume bauen, in denen der Klang ohne Unterlass zirkulieren könnte. Aber das ist nie passiert. Also finde ich mich heute als Musiker in denselben Räumen wieder wie vor einem halben Jahrhundert. Aber die Technik hat sich verändert: Es wird einfach alles elektronisch verstärkt. Und ich hasse Verstärkung, denn man verliert etwas von dem Klang selbst, wenn man ihn aufbauscht. Umso sanftereine Musik ist, desto weniger sollte man sie verstärken. Heute denkt aber jeder, man müsse alles verstärken. Auch die Musiker möchten das. Das hat etwas mit dem Ego zu tun – sie möchten aufgezeichnet und wieder ausgestrahlt werden.

Nervt Sie die Klangumgebung im öffentlichen Raum heute – wo doch überall verstärkte Musik tönt, in jedem Laden, aus jedem Auto?

Ja, es gibt heute mehr Menschen und mehr Lärm. Es gibt Klänge, die man niemals zuvor hörte – die Transporter, die piepsen, wenn sie die Laderampe herunterlassen. Ich denke, dass man, wenn man heute in der Stadt allen Klängen Aufmerksamkeit schenkte, nicht mehr funktionieren könnte ...

Haben sich die Reaktionen auf Ihre Werke verändert?

Oh ja! In den 1950er und -60er Jahren wurden sie nicht als Musik wahrgenommen. Kein englisches Konservatorium nahm mich als Komponist ernst, keine Chance! Heute spielen sie meine Werke dauernd. So ging es auch John Cage – auch er hat für die Zukunft komponiert. Heute verstehen die Leute diese Art von Musik. Vor allem die jungen Leute hören heute sehr genau hin. An der Wesleyan Universität unterrichtete ich eine große Klasse von 180 Studenten. Ich verärgerte sie oft. Ich sagte ihnen, sie seien gut vorbereitet – durch die Rockmusik, die sie hörten; aber ich sagte ihnen auch: „Ich bin nicht interessiert an eurer Meinung, ich interessiere mich für eure Wahrnehmung.“ Es reichte mir nicht, wenn sie mir sagten, dieses oder jenes Stück sei schräg, verstehen Sie? Am Ende des Semesters würden sie besser hinhören.

Sie haben die Musik als körperliche, physikalische Kraft betrachtet, was aus der elektronischen und der Popmusik heute nicht mehr wegzudenken ist …

Ich beabsichtigte das nicht! Ich studierte klassische Musik in Europa, Beethoven und so weiter. Aber ich dachte: „Das ist nicht meine Musik. Ich kann das doch bloß imitieren.“ Aber man würde damit niemals so gut werden, wie die Komponisten dieser Zeit, denn es lag ihnen im Blut. Also ging ich zurück in die USA, traf dort einen Physiker und der hatte diesen Alphawellen-Verstärker. Ich dachte: „Großartig, hierfür gibt es noch gar keinen Stil! Das kann ich einfach spielen!“ Ich ließ die Form einfach sein. Ich ließ die Klänge fließen. Ich wollte keine musikalische Sprache anwenden. Die Autorin des Buches „Whale Song“, Margret Grebowicz, schreibt etwas Wunderbares, nämlich, dass Wale und Delphine nicht lügen können. Ich wollte, dass meine Musik so ist. Ich wollte den reinen, physischen Klang.

Wo in der Welt finden Sie solche Klänge?

Im Sommer gehe ich in Colorado in die Natur, an einen Fluss. Ich schaue den Wellen zu, die dem Klang sehr ähnlich sind. Die gesamte physische Natur klingt. Ich beobachte das einfach, höre zu.

Aber ich bin kein Poet. Ich bin sehr praktisch bei der Arbeit. Die wahre Poesie entsteht in der Aufführung des Stückes. Es ist die Situation, die entsteht, wenn die Menschen aufmerksam zuhören, so still sind, oder miteinander darüber sprechen.

Besteht die Poesie also letztlich darin, die Klänge „sie selbst sein zu lassen“?

Absolut.

Alvin Lucier
Der US-amerikanische Avantgarde-Musiker Alvin Lucier, geb. 1931, lehrte jahrzehntelang an der Wesleyan Universität. Zahlreiche Auftritte und Konzerte mit der Sonic Arts Union (gemeinsam mit Robert Ashley, David Behrman, Gordon Mumma) machten ihn weltbekannt. Lucier komponiert experimentelle Musik und erforscht die physikalischen Eigenschaften und akustischen Phänomene von Ton und Klang selbst.
Titelbild: Avantgarde-Musiker Alvin Lucier, 86 / Foto: © Camille Blake