Fenstergucker

„Der Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg“ 
Ein Stellvertreterkrieg

Die Terrormiliz Islamischer Staat und die zunehmende Internationalisierung des Syrien-Konfliktes haben zur Folge, den ursprünglich friedlichen Protest, der schon 2000 begonnen hat, nicht mehr zu erinnern. Der Damaszener Frühling, eine Periode intensiver politischer und sozialer Debatten in Syrien nach dem Tod des Diktators Hafez al-Assad,war die Generalprobe für den Arabischen Frühling, der schließlich die gesamte Region erfasste. „Diese Revolte kam nicht überraschend, sie hatte sich jahrelang angekündigt. Tischler, Ingenieure, Professoren, Ärzte ..., alle waren daran beteiligt. Sie forderten eine Reform. Viele wurden inhaftiert oder getötet“, so der renommierte syrische Philosoph Sadiq al-Azm. Die wachsende Enttäuschung führte in der zweiten Welle der Revolte 2011 zur Militarisierung des Konflikts und zu seiner blutigen Niederschlagung. Der erste Demonstrant wurde in Homs getötet, „Pinochets Fratze kam zum Vorschein. Das wahre Gesicht einer Diktatur. In Apartheid-Systemen, die wir aus Südafrika und von anderen Diktaturen kennen, haben Tischler, Ingenieure, Professoren, Ärzte etc. keine Chance“, schildert Sadiq al-Azm. „Nach und nach wurden sie alle mit Waffen aus Russland und dem Iranversorgt. Auch das kam nicht überraschend. Die Infrastruktur wurde zerstört, Schulen, Spitäler etc. wurden zerbombt und das Personal inhaftiert oder getötet. Dieser anfangs friedliche Protest wurde von einer Genozid-Diktatur im Keim erstickt. Hitler und Mussolini waren die Vorbilder“, so die deutlichen Worte Sadiq al-Azms, der 1934 in Damaskus geboren wurde und zu den bedeutendsten Intellektuellen der arabischen Welt zählt. Er gilt als einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten. Seine Bücher (Kritik des religiösen Denkens; Unbehagen in der Moderne – Aufklärung im Islam, u.v.m.), die seit den 1960er Jahren entscheidend zur sozio-politischen und säkularen Debatte in arabischen Ländern beigetragen haben, sind im arabischen Raum verboten. Für sein Vergehen, Kritik am System zu üben und Verfechter eines säkularisierten Islam zu sein, wurde Azm inhaftiert (Libanon 1969–1970).

 

„Unter einer oberflächlichen Ruhe braute sich jahrelang etwas zusammen, das spürbar war – politisch, mental und physisch. Nach und nach musste jedes Wort überlegt sein und sorgsam in die Waagschale gelegt werden. Jede Spontaneität wurde damit zunichte gemacht. Nicht nur Fremde wurden misstrauisch beäugt, sondern plötzlich auch langjährige Beziehungen und Partnerschaften. Jeder misstraute jedem. Vertrauen und Solidarität waren tot, anstelle an ihre Stelle traten Hass, Unterdrückung, Anarchie und Gewalt. Mit diesem Widerspruch habe ich, haben wir alle gelebt: zwischen Enttäuschung, Hoffnung, Resignation, Angst und inständiger Schwebe – in einer Angstkultur.“Sadiq al-Azm

 

Kontrolle, „Konsensmanufaktur“mit unzähligen Verzweigungen und Armen, Schutzgelder und gewalttätige Energien, die jeden Moment entfesselt werden konnten – Die Spannungen waren über den langen Zeitraum von mehr als zehn Jahren so groß, dass sie von der breiten syrischen Bevölkerung unter vorgehaltener Hand mit einem „Feuerwerkskörper“ verglichen wurden, der hochgehen wird. Nur eine Frage der Zeit. So geschehen in Tunesien, wo der Arabische Frühling seinen Anfang nahm. Es gab keine Alternative: Reform oder Kollaps des gesamten Systems. Heute tobt der Krieg und Syrien ist ein gefährlicher Schauplatz, wo Festnahmen und Folter an der Tagesordnung sind. Die Türkei, der Iran, Russland, die USA und Europa sind mit der Flüchtlingskrise in die regionalen Aspekte des Syrien-Konfliktes verwickelt. Syrien ist heute zu einem Schauplatz weltpolitischer Spannungen und Entladungen geworden.

2000 nahm Sadiq al-Azm am Damaszener Frühling teil und verfasste das „Manifest der 99“ mit, um sich für die Demokratisierung seines Landes stark zu machen, daraufhin musste er Syrien verlassen. Er lebt heute als politischer Flüchtling in Deutschland und bringt die syrische Perspektive in die Sichtweisen und Analysen der westlichen Welt ein, und erklärt von innen das Bestreben der Syrer, weiter zu rebellieren und zu kämpfen. Die Opposition ist inner- und außerhalb Syriens komplett von den Machtzirkeln abgeschnitten. Azm setzt sich mit seiner Frau aus dem Exil für die demokratische Opposition in Syrien ein.

Bashar al-Assad kam 2000 an die Macht, er verfolgte eisern die Linie seines Vaters Hafezal-Assad, der das Land fast 30 Jahre lang regiert und die Bevölkerung unterdrückt hatte. Jeder Versuch, mit Assad zu verhandeln, scheiterte. Die neuen Bürgerproteste im Jahre 2011 führten zum Krieg. Assad bekämpfte das eigene Volk. „Der Syrien-Konflikt ist kein Bürgerkrieg“, so Azm. Wie aber konnten sich die Assads so lange an der Macht halten? „Durch eine gewaltige Waffen- und eine alle Bereiche infiltrierende Überwachungsmaschinerie, die auf den Sechstagekrieg 1967 gegen Israel und die erste Intifada in Palästina (1987–1993) zurückzuführen ist. Es gibt keine andere Erklärung. Mit Waffen konsolidierte Assad seine Macht“, schildert Sadiq al-Azm. Große Waffenarsenale wurden damals in Syrien angelegt, Assad ließ das Militärregime aus- und zahlreiche Koranschulen erbauen, „er führteseine eigene Minderheit, die Baath-Partei, an die Macht, mit dem tiefen Bewusstsein über seine Defizite, um so seine Legitimität zu sichern“. Damit marginalisierte er die Mehrheit, die breite syrische Bevölkerung.

Auf die Frage, warum der Westen lange nicht einschritt, erwidert Sadiq al-Azm rasch und emotional: „Ich bin nicht naiv! Wenn jemand helfen will, hilft er. Wenn jemand unterstützen will, unterstützt er! Obama lässt Syrien ausbluten. Wir alle brauchen Schutz! Rund 20 Prozent der Flüchtlinge nach Europa sind Syrer. Auf die Frage, warum Europa so viele Flüchtlinge aufnehme, erwidert Sadiq al-Azm: „Das kann ich nicht kommentieren, das muss ich Sie fragen!“ 2016 wird Sadiq al-Azm Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien sein.

Doris Lippitsch