Für keinen Cent mehr

Von den Spuren (stiller) Empörung, Bertolt Brechts "Revuemädchen" und dem richtigen im falschen Leben

Von LUISE WOLF

Neulich, in der Berliner U-Bahn, wurde ich nur durch die Spur einer menschlichen Geste daran erinnert, wie quer die Welt doch ist. Hier, im Untergrund-­Zubringer, wo sich der Zug Station für Station durch das flirrende Lichtgewitter der Werbeindustrie wühlt, nahm ich am Leuchtkasten des Online-Dating-Portals Parship etwas wahr, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. ­Unter dem elitär grinsenden Gesicht einer etwa 30-jährigen, "natürlichen" Schönheit stand in simpler Handschrift geschrieben: "Und nichts hat mehr einen Wert". Das berührte mich. Denn, wenn nicht die Liebe, was hat dann noch Wert im rein moralischen Sinne? Es war zudem nicht die naiv-rebellische Weltverbesserungsattitüde, die mir aus dieser Schrift entgegensprang, sondern vielmehr Resigna­tion, höchstens stille Empörung. Das war kein stylischer Graffiti-Tagg – fett und bunt in 3D-Optik. Die Zeilen fielen nach unten ab, wie eine absteigende Melodie. Nur eine Randnotiz. So fühle auch ich mich zuweilen, wenn ich durch die Portfolio-Blogs junger Journalisten klicke. Hier zeigen sie ihre "Arbeit" für zehn oder mehr Online-Magazine, um so nochmal 100 Likes einzustreichen, aber wohl keinen Cent mehr ...

Schlimmer noch mag sich die Striptease-­Tänzerin gefühlt haben, die Bertolt Brecht im Gedicht "Gedanken eines Revuemädchens während des Entkleidungsaktes" beschreibt. Sie singt: "Mein Los ist es, auf dieser queren Erde / Der Kunst zu dienen als die letzte Magd / Auf daß den Herrn ein Glück bescheret werde / Doch wenn ihr fragt / Was ich wohl fühle, wenn ich mich entblöße." Die Striptöse fühlt ... "nichts."

In diesem Schauspiel wird die Striptöse zur Richterin und Anklägerin des Publikums – der "Wölfe", die sie als Voyeure bloßstellt. Sie singt ihnen einen Katzenjammer über die Mühen und Armseligkeit ihres täglichen ­Lebens anstatt sie zu belustigen. Die Tänzerin verdreht die Verhältnisse und rückt dadurch die "quere" Welt zurecht. Welch’ sarkastisches Schauspiel hätte uns Brecht wohl auf die ­moderne Liebes-Industrie beschert? Zum ­Beispiel über die Huren-Städte in Mexiko oder die "Kuschelcafés" in Japan? Wie hätte er das postmoderne Phantasma von der "Liebe auf den ersten Klick" behandelt? Brecht selbst sagt nichts mehr, wohl aber seine Kunst: Was tief und echt ist, stört. Was bloß Ware ist, passt. Was, gemein hin gesagt, einfach "läuft", kann keine Leidenschaft erzeugen. Sodann – wir sollten uns quer stellen! Quer lesen!

Zu Querulanten werden! Man braucht nicht viel dazu, zumindest aber den Willen und den Mut, das Richtige im Falschen zu leben und die Fähigkeit zu unterscheiden. ­Eine Rand­notiz.