- © - -

Mögliche Wirklichkeiten

oder Eine subjektive Komposition des Weltbildes

Halb-Raum ©Laurids & Manfred Ortner

Über die 13. Architekturbiennale Venedig und Common Ground. Eine Installation von Laurids & Manfred Ortner.

Wir erzählen, illustrieren, interpretieren, dokumentieren und abstrahieren unsere Welt mit Bildern seit der Höhlenmalerei. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff Weltbild: das Bild als Vermittler einer Idee von Realität oder der Formulierung des Wunsches nach einer möglichen Realität. Über die Jahrhunderte erzählen Zeichnungen und Malereien von diesen Weltbildern als Ausdruck eines Zeitgeistes (wie im Übrigen auch die Architektur). Erstaunlicherweise warf die Technik der Fotografie dieses Weltbild auf seltsame Weise durcheinander, weil sie plötzlich die Wirklichkeit der Welt abbildete, oder besser: sie scheinbar abzubilden imstande war.
     Wie lesen wir also die Information des Bildes? Mit der Fotografie kam auch der Apparat als Hilfs - mittel. Auch wenn anfangs die Fotografie durch technische Beschränkungen durchaus einen hohen Grad an Abstraktion zeigte. Somit ist die Zeichnung der Architektur als konstruierte Realität näher als das Foto.
     Architektur und Raum als Zeichnung, Rendering, Foto oder Realität? Wer heute Architektur betrachtet, hat viele Medien zur Auswahl, die Realität ist nur eine davon, und vielleicht nicht immer die aussagekräftigste. Denn das „Wesen dessen, was wir für die Wirklichkeit unserer Welt halten, wurde durch das Eindringen der Medien in die Alltagswelt grundlegend in Frage gestellt“. Wir müssen uns also als Betrachtender ständig die Frage stellen, in welchem Bereich das Bild, das wir betrachten, „Fuß fasst“.
     Nun erfahren wir umso mehr unsere Welt in Bildern, jedes Ereignis wird (oft in Echtzeit) in Bilder übertragen. Wir glauben damit einerseits die Realität zu kennen, weil wir sie zu sehen meinen, verlieren aber andererseits immer mehr Vertrauen in diese mediatisierte (und leicht manipulierbare) Umwelt und deren Vermittler. Wir vermuten, dass Bilder/Fotos, selbst wenn es Millionen vom selben Ereignis sind, nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen. Und vielleicht sogar einen, den wir sehen sollen, und nicht den, den wir sehen wollen. Dennoch steht das Bild im 21. Jahrhundert meist vor der Erfahrung des Realen, anstelle eines Ereignisses. Wir sind immer öfter nicht mehr vor Ort, wir erleben nicht, wir schauen. Aber die Frage bleibt: Übertrifft die Realität wirklich noch die Fiktion?
     Und: Ist nicht bereits jedes Foto/Bild eine Art fingierte Realität, also Fiktion? Der Bildkonsum verzehrt und verzerrt das Ereignis. Um diese Bilder also lesen zu können, müssen wir die Art der Verzerrung erkennen, um die Information im Bild zu verstehen. Das ist bei jedem Bild, und im Speziellen bei jedem Foto, so, da wir bei einem Foto von einer gezeigten Realität ausgehen, bei einer Zeichnung oder einer Malerei nicht.

Landesarchiv NRW ©O&O Baukunst

     CHIRICOS NACHMITTAG
Wie lange sind wir schon auf der Suche nach diesen Bildern? Bilder, die das fast Normale herüberbringen, die eine Wirklichkeit zeigen, bei der man die Szenen schon einmal gesehen zu haben meint, ohne zu wissen, wo und wann. Bilder, die all das Bekannte und Vertraute in eine geringfügig verschobene nächste Ebene kippen und sie mit einem Mal rätselhaft und fremd machen. Braucht es dazu ständig fließenden Regen wie in Blade Runner oder die flackernden Straßenfeuer, die es in Neapel gab, wenn es kalt wurde? Wohin haben sich Chandlers Typen verdrückt? Wo ist endlich die Bar von Hoppers Nighthawks? War das nicht die Stadt, die einzige, in der es aufregend genug war, nur da zu sein; die sich nie aufdrängte und außer dichter Fremde keine extra Eigenschaften hatte?
      Wie immer sind es Schriftsteller, Maler, Filmer, Photographen, auch Philosophen, die von dieser Eigenschaft, diesen Stimmungen, die da ausgelöst werden können, berichten. Eigentlich alle, außer den Architekten, die auf der Jagd nach dem Neuen eben angestrengt dabei sind, die nächste spektakuläre Hülle zu erfinden.
     Bitte Freunde, keine neuen Sensationen, lasst uns doch endlich mit dem Repertoire arbeiten, das wir jetzt ungeniert verwenden dürfen: mit allem, was von der Antike bis zur Moderne brauchbar ist. Der Ort, das Umfeld, die Aufgabe geben vor, was angemessen ist. Eklektisch ist dabei gar nichts. Immer ist ein anderer, direkterer Weg zu finden. In Europa haben wir uns da mit grandiosem Erbe zu arrangieren, Altes mit Neuem zu flicken, beides zu einer anderen Einheit zu verschmelzen. Und ganz selbstverständlich schiebt sich da die überragende Qualität des Mediterranen ins Zentrum.
     Für uns nichts Neues. Chirico ist unser Patenonkel, seit wir seinen Namen buchstabieren konnten. Wie viele Nachmittage im Herbst haben wir auf der Piazza d’Italia mit ihm verbracht. Die Luft ist dann schon deutlich kühler, das Licht hat endlich seine Schleier abgestreift. Alles weit hinten ist jetzt so scharf wie die Dinge ganz vorne. Und der Strich zwischen Himmel und Meer pechschwarz. Klare steinerne Bauten um uns, von tiefer Sonne mit allen Kanten golden beleuchtet. Unmittelbar daneben mit langen blauen Schatten die kompakte zweite Welt.

Thespis-Cart by L.O.M.O. ©Laurids Ortner & Manfred Ortner

     DER THESPISKARREN
Die hölzerne Wanderbühne auf Rädern: ein Wagen, mit dem große Stücke angekarrt werden, der Menschen magisch anzieht, ihnen verdeutlicht, was sie selbst schwach spüren. Im 6. Jh. v. Chr. soll der Dichter Thespis die altgriechische Tragödie begründet haben. Grund genug, ihm ein Vehikel zu widmen, mit dem sich nach allen Regeln der darstellenden Kunst urbane Kultur erspielen lässt.
     Was den Karren so liebenswert macht, ist seine Kargheit. Alles ist zurückgebracht aufs Bewegliche und rasch Veränderliche, auf eine kleinste Menge an transportierbarem Gut, das sich vor Ort zu er staunlicher Blüte entfalten muss. Holz und Leinwand waren dabei immer die tüchtigsten Materialien – sie sind es geblieben. Sehnsucht nach solcher Einfachheit, nach Ausmisten und Reinigen von all dem Angekruste ten wird spielend mitgeliefert.

Texte: LAURIDS ORTNER