Kosmos 6.887 Zeichen

Im Sommer, zwischen Fußball-EM und Olympiade, zwischen Krisen und Korruption, jagte ein kurzer Schauer von Higgs-Teilchen durch die Journale und Köpfe der Leser. Die Botschaft der CERNDruiden war taktisch klug: Nicht der Schlussbaustein der Teilchenphysik sei gefunden, sondern ein Tor zum Kosmos habe sich geöffnet zu jenen beunruhigenden 95 Prozent von Dunkler Materie und Dunkler Energie. Noch lange dürfe der LHCBeschleuniger nicht – wie sein amerikanischer Rivale – stillgelegt werden.

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     QUER DURCH DIE EPISTEMISCHE RAUMZEIT
„Kosmos“ bedeutete für die frühen griechischen Naturphilosophen so etwas wie ein geordnetes System und war das Gegenteil vom dunklen Chaos, aus dem er sich entwickelt hatte (wie auch in den Mythologien davor). Oft stand ein Masterplan dahinter, wie auch später bei Aristoteles: Seine Vorstellung eines „Unbewegten Bewegers“ beeinflusste Thomas von Aquin und ließ Gott sich wandeln: von einem unberechenbaren Patriarchen über den gütigen Vater zum weisen Mathematiker, dessen harmonische Kreise es galt, auch wissenschaftlich zu ergründen. Kant erklärte dann einen Schöpfer als nicht beweisbar, aber im Gefüge der Vernunft als sinnvoll. Er schaffte die große Wende im Denken der Moderne: Die Dinge der Welt „an sich“ sind nicht unmittelbar, sondern nur als Phänomene unseres Geistes erkennbar. Spielregeln von Gehirn und Denken bestimmen (erst undeutlich erkannt) daher das Was und Wie auch unserer Naturgesetze. Die „Welt“ bildet sich in uns und wird zum Kosmos, wenn sie dort geordnet wurde. Etwa durch die symbolische Transformation und Reduktion der verwirrend vielfältigen Informationen in eine denkökonomisch (siehe Ernst Mach) sinnvolle Anzahl von Begriffen, Kategorien, Modellen, die sich bewähren können, doch nicht die „Wahrheit“ sind. Damit landen wir erkenntnistheoretisch in der Nach-Moderne.

     QUANTENMECHANIK UND STRUKTUR DER ENERGIE
Anno 1666: Pestjahr, Cambridge geschlossen und der junge Postdoc Newton unter einem Baum des elterlichen Guts tagträumend: Als ihn der Apfel trifft, erkennt er das Gesetz der Schwerkraft, baut ein Spiegelteleskop und zerlegt wenig später das Sonnenlicht mit einem Prisma: Divide et impera! 200 Jahre später halten die Unzertrennlichen Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen Kochsalz in eine Flamme und entdecken ein Spektrum mit einzelnen Linien, das für jeweils ein Element typisch ist. Dann, nach 1900, die Materie war durch Röntgenstrahlen „voll Zwischenraum hindurchzuschaun“, verwendete Nils Bohr die Spektrallinien und das Planck’sche Wirkungsquantum h¯ (sprich: h quer) für sein Planeten-Atommodell. Was dann aber nur den Wasserstoff erklärte, sodass er in den 1920ern eine bunte Truppe von Jung-Genies in Kopenhagen um sich scharte, wo dann Werner Heisenberg die Matrizenmechanik und etwas später Erwin Schrödinger an der ETH Zürich seine geniale ψ-Funktion fand, die beim schüchtern-exzentrischen Paul Dirac in Oxford, der sie relativistisch behandelt hatte, zwei Lösungen ergab: Es musste eine Antimaterie geben, die auch bald danach gefunden wurde. Die drei erhielten ihre Nobelpreise 1932 und 1933.

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     QUARKS UND DAS HIGGS-TEILCHEN DER MASSE
Vor 100 Jahren, im August 1912, stieg Felix Franz Hess mit einem in Wien gestarteten Ballon auf 5.000 Meter Höhe und entdeckte, dass die seine Labormessungen störende Partikel-Strahlung aus dem Weltraum kam. Erst verlacht, wurde ihm für die Entdeckung der Kosmischen Strahlung 1936 dann doch der Nobelpreis verliehen. 1937 konnte in seiner Mess-Station, einer kleinen Holzhütte auf dem Hafelekar, der Nordkette hoch über Innsbruck, von den Physikerinnen Marietta Blau und Hertha Wambacher auf exponierten Fotoplatten die erste Kernspaltung nachgewiesen werden: Kosmische Protonen (100-mal energiereicher als die des LHC) hatten einen Silberkern der Fotoemulsion in viele Trümmer geschlagen, deren Spuren einen Stern ergaben. Millionen solcher Spurbilder sind seither in den großen Beschleunigern, wo Teilchen mit hoher Energie aufeinander geschossen werden, gemacht worden. Sie haben nach und nach zum Standardmodell der Elementarteilchen geführt: sechs Quarks, von denen je drei von Gluonen (Teilchen der starken Kernkraft) zusammengeleimt die Protonen und Neutronen des Kerns bilden, während die Elektronen der Hülle durch Photonen (Teilchen der elektromagnetischen Kraft) verbunden sind. Die schwache Kernkraft steuert den radioaktiven Zerfall durch Bosonen. Nach dem Teilchen der vierten fundamentalen Kraft, der Gravitation, sucht man noch. 1964 musste, damit das damalige Theoriengebäude nicht einstürzte, von Peter Higgs et al. ein Teilchen bzw. Feld postuliert werden, das den anderen Teilchen rechnerisch ihre Masse gab. Jetzt ist es gefunden worden: am LHC, dem Large Hadron Collider, einem Ringtunnel mit 27 Kilometern Länge des CERN bei Genf, tief unter der Erde.

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     QUASARE, URKNALL UND INFORMATION
Einsteins allgemeine Relativitätstheorie von 1916 sieht Raum und Zeit durch die Anordnung der Materie gekrümmt. Aus diesen Gleichungen konnte der Russe Alexander Friedmann in den 1920ern die Notwendigkeit eines Urknalls herleiten: Raumzeit und Materie seien am Anfang in einem Punkt vereinigt gewesen und dann explosionsartig expandiert. Dies wurde bald darauf durch die sogenannte Rotverschiebung der Galaxienspektren, die Edwin Hubble am Mount-Palomar-Observatorium beobachtete, bestätigt. Außerdem sagte George Gamov eine noch vom Urknall herrührende Hintergrundstrahlung von wenigen Grad Kelvin voraus, die 1965 von den Satelliten-Funk-Technikern Arno Penzias und Robert Wilson zufällig entdeckt wurde. Doch die gegenwärtige Expansion ist schneller als die Gleichungen es erlauben, sodass man 72 Prozent Dunkle Energie und 23 Prozent Dunkle Materie in Rechnung stellen muss. Niemand weiß, warum, auch die Raum-Patrouillen mit Antimaterieantrieb nicht – und ich auch nicht. Trotzdem hat man sich auf unglaublich kleine Sekundenbruchteile an den Anfang herangerechnet, der aber „singulär“ bleibt, d.h. nur unendliche oder Null-Werte ergibt. Der angesehene Kosmologe Roger Penrose von Oxford hat vor Kurzem einen neuen Ansatz vorgelegt, der von Boltz manns Entropiebegriff ausgeht: Am Anfang war nicht, wie bisher angenommen, das größte Chaos, sondern die höchstmögliche Informationsdichte, aus der sich über sequenzielle Symmetriebrüche die vier Kräfte und die Teilchen entwickelt haben. Daraus dann Nebel, Sterne, Planeten und Galaxien mit Quasaren im Zentrum.

     QUINTESSENZ Gibt es den Mond, wenn man nicht hinschaut? Das war das Lieblings-Streitthema von Einstein und Bohr bei ihren Spaziergängen. Führt doch die Erforschung von Mikro- und Makrokosmos automatisch zur erkenntnistheoretischen Grundfrage: Was kann ich überhaupt wissen? Denn nicht Teilchen, nicht Felder, sondern die übergeordneten, ungleich komplexeren Qualitäten Leben und Bewusstsein schaffen jenen (inneren) Kosmos, in dem wir wahrnehmen, und wo es manchmal (subjektiv unbestreitbar) hell wird, wenn das vorher Dunkel-Divergente wechselwirkend in einer Lösung zusammenfindet.

Text und Bilder: UDO WID

Udo Wid, viele Jahre in der Biophysik-Forschung in Seibersdorf tätig, realisiert Projekte im Wechselwirkungsfeld von Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Alltag (siehe dazu u.a. Google: „Udo Wid Synergie der Disziplinen“, Ausstellung in der Secession Wien, oder: „Udo Wid Die vier Kulturen“, Vortrag bei INST-Kongress, Austria Center).