Über Zwischenräume und virtuelle Schnittstellen

Netzwerkanalyst Harald Katzmair, Gründer von FAS.research mit Sitz in Wien und New York, über transaktionale Places vs. Spaces, Entwertungsgeschwindigkeit, Google und skalierbare Algorithmen.

Urbanität ist ein zentrales Thema im 21.
Jahrhundert. Warum?

Urbanität ist das Sinnbild der Ambiguität, des Neben- und Übereinanders, des Durch- und Ineinanders, der Heterogenesis von Affekten, Bildern und Begriffen. Damit aber auch eine Verschachtelung und Vernahtung von unterschiedlichen Rhythmen und Zyklen. Ich verwende dafür den Begriff Cross-Scale Fold Networks, das sind heterogene Beziehungsformen, die Falten aus lokalen und globalen sowie schnellen und sehr langsamen Elementen bilden. Städte haben deshalb eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit im Sinne einer Entwicklungs- und Selbstheilungsfähigkeit. Im Unterschied zu Firmen oder Personen sterben sie nur sehr selten. Nach Überschwemmungen und Bränden werden sie wieder aufgebaut. Weder Katrina noch George Bush konnten New Orleans vernichten. In Detroit entstehen in zentralen Lagen – inmitten des Niedergangs – Äcker und Kommunen, die neue Zyklen beginnen. Städte sind die Orte der Erneuerung und des Niedergangs und auch in Zukunft ein heterotoper Raum, in dem hoffentlich möglichst viele Menschen das Umfeld für ein gutes Leben vorfinden. Die Architektur ist in diesem Zusammenhang nicht nur Umwelt, Bühne und Kontext des Lebens von Menschen und anderen Mitbewohnern der Stadt (Hunde, Mäuse, Mauersegler etc.), sondern auch Manifest des gelungenen Lebens möglichst vieler.

Der französische Urbanist Paul Virilio hat
einmal gesagt, dass der Architekt immer
auch ein wenig ein Astronom sei, d.h. ein
Mensch, der im Augenblick mit den
Problemen arbeitet, die auch die anderen
betreffen. Wie etwa bei Vitruvius oder den
ägyptischen Architekten: Das waren alles
Männer der Weltanschauung, also
Menschen, die eine Vision dieser Welt,
von der Architektur dieser Welt hatten.

Das Vermögen, mit aktuellen Problemen, die andere tatsächlich betreffen, zu arbeiten, setzt eine analytisch- empathische Fähigkeit voraus, Kontexte zu lesen und deren spezifischen Sinn und „Währungen“ zu erkennen, ist mit einer Art emotionaler, visueller und konzeptiver Hermeneutik von „Places“ verbunden. Visionen haben ja mit dem Erkennen spezifischer Potenziale und Möglichkeiten im Zusammenhang mit Orten und Konstellationen zu tun, mit dem Robert Musil’schen „Möglichkeitssinn“ also. Die Frage lautet immer: Von welcher Landkarte gehen wir aus, um unsere Möglichkeiten zu bemessen und zu bewerten? Was ist eine Möglichkeit, ein gangbarer Weg, ein unerkundetes Territorium und was nicht? Woran bemessen wir, ob etwas möglich ist oder nicht? In einer Welt, in der alle „Places“ in rein transaktionale „Spaces“ aufgelöst werden, ist die einzige Vision der Welt die der Senkung von Transaktionskosten sowie der Steigerung der Entwertungsgeschwindigkeit. Nicht aber die Herstellung von sozialen Architekturen und Ökologien für die Entwicklung und Realisierung unserer Potenziale. Empathie und ortsspezifische Hermeneutiken sind hier fehl am Platz, es geht ja auch um die Normalisierung dessen, was als Problem überhaupt anerkannt wird, und darum, die eigene Existenz in Performance-Rankings und Benchmark-Registern einzurichten. Generell geht der Verlust von Visionen mit dem Verlust der Skalen zur Bewertung unserer Möglichkeiten einher: je ge ringer die Anzahl unserer Bewertungskriterien, je geringer die Diversität von Maßstäben, desto ärmer und einfältiger unser Möglichkeitssinn. Mit der Monokultur von Währungen in Systemen geht die Erfahrung der Klaustrophobie des Seins einher, des Gefühls, „gefangen“ zu sein. Oder ist es befreiend und öffnend, wenn als die letzte verbleibende Vision jene übrigbleibt, im nächsten Jahr die Kosten zu senken, den Umsatz zu steigern und den Gewinn zu erhöhen? Nicht wirklich, oder?

Der Finanzmarkt basiert auf Algorithmen.
Gehen alle Systeme auf die Entdeckung
der Geschwindigkeit des Lichtes und damit
auf Einstein zurück?

Virilio hat hier seit Jahrzehnten wesentliche Forschungsarbeit geleistet. Mit ihm kann man sicherlich sagen, dass die Steigerung der Geschwindigkeiten und der Synchronisierung der globalen Ent wertungszyklen das Ideal der Lichtgeschwindigkeit verfolgt. Es ist der Kollaps der Zwischenräume, der den Transaktionsraum des Cyberspace charakterisiert. Die Zeit des Transports ist der Feind, weil er nur ein Kostenfaktor ist. Besser wir sind immer schon angekommen oder müssen unsere Bildschirme erst gar nicht verlassen und unsere iPhones nicht mehr abdrehen, um nach Amerika zu reisen. Der rasende Stillstand und das zusehends Unbewohnbarwerden der Welt sind eine Grunderfahrung, weil die physischen Zwischenräume zugunsten der virtuellen Schnittstellen verschwinden. Ich beschäftige mich schon länger mit dem Problem des Absterbens von langsamen Beziehungsformen, wie etwa der der Freundschaft bis hin zu schnellen Deal-Beziehungen. Mit Spinoza kann man sagen, dass Netzwerke eine Komposition aus schnellen und langsamen Beziehungsformen und -zyklen darstellen, mit dem unterschiedlichen Vermögen, die Welt zu berühren, wie von der Welt berührt zu werden – schnelle Beziehungen über Twitter, langsame über Freundschaft. Wir versuchen aber zunehmend, den Aufbau von Vertrauen und Freundschaften nach dem Modell der Twitterwelt zu gestalten. Denken Sie nur an den Short-Cut der Partnerbörsen und den Einsatz von statistischen Matching-Algorithmen zur Identifikation von idealen Partnern. Ich halte es da eher mit Walter Benjamin, der ja in der Einbahnstraße dieses wunderschöne Bild entwickelt, jenes der Falte der Geliebten, in die man erst seine Liebe hineinlegen kann, wie ein Schwarm auffliegender Vögel, der in einem Busch Schutz findet. Benjamins Falte ist eine räumliche Metapher, die Partnerbörse ein Echtzeitmodell der Reduktion von Transaktionskosten auf Basis von statistischen Check-Listen. Wir haben keine Cyber-Time zur Exploration der Falten unserer Welt und unserer Nächsten. Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist der Verlust der Orientierung im Cyber-Space, weil uns die Cyber-Time fehlt, dem Zwischenraum – dem „negativen Space“ des Designs und der Architektur – einen Platz einzuräumen. Es fehlt die Zeit der Durchquerung, der Hemmung und Unterbrechung. Wir stopfen alles so voll mit Info-Zeugs und wir glätten die Falten der Geliebten mit Photoshop. Was für eine groteske Befüllung, Verstopfung und Glättung unseres Le bens! Virilio sprach in diesem Zusammenhang vom „Belagerungszustand“ und Michel Serres vom „Tsunami der Zeichen“. Beides schöne Metaphern!

Cyber-Space und Cyber-Time: Welche
Rolle spielt Google in unserem Leben?

Google ist ein Mindset, bevor es Technologie ist, die Haltung des „sechsten Kontinents“ des Cyberspace, die besagt, dass alles in der Welt skaliert werden muss, um global effektiv zu sein, und daher grundsätzlich in skalierbare Algorithmen übersetzt werden muss. Der Feind der semantischen Technologien sind die Ambiguität und der Kontext der Sprache. Beide sind aber die Quelle jeder Erneuerung des Lebens. Google, das ist die Angst des Machine-Learning-Engineers vor dem Unbestimmten und den Rissen im Gebälk dieser Welt der Zeichen. Zugleich ist Google der Triumph des Software-Engineers über die Hermeneutik. Google zwingt die Lokalisten und Ortsgebundenen, sich zu digitalisieren und abstrakt zu werden. Google ist der Parasit des Kontents, der finale ökonomische Triumph des Kontent-Aggregators über den Kontent-Produzenten (Musiker, Photographen, Blogger etc.). Google, das ist unsere Navigationskrücke in der Welt des rasenden Stillstandes. Es gibt keinen Norden, Süden, Osten und Westen mehr, sondern Listen und Rankings von Suchergebnissen. Die Top-Suchergebnisse orientieren unser Begehren, nicht mehr der weiße Raum des Unbekannten, oder der Beerenstrauch am Zaunrand zum Nachbarn. Darüber hinaus ist Google ein sehr gutes Beispiel dafür, dass Informationen nicht mit Wissen und Wissen nicht mit Weisheit verwechselt werden sollte. Wir ertrinken in Informationen und wir dürsten nach Weisheit. Wir werden sie – fürchte ich – bei Google auch in Zukunft nicht finden.

Der Zufall in diesem Kalkül? Flaubert sagte:
„Je mehr Teleskope perfektioniert werden,
umso mehr Sterne werden da sein.“

Leonard Cohen hat in seinem wunderbaren Lied „Anthem“ gesagt: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“. Das Leben ist ein Prozess, und wir wissen von den Quantenphysikern, dass ein Dramolett aus Symmetriebrücken und thermodynamischen Ungleichgewichten besteht. Die Geburt der Ordnung setzt den Symmetriebruch voraus. Die Risse zu verdrängen heißt, das Leben zu mortifizieren, es zu substanzialisieren, zu blockieren, es in einem gewissen Sinne niederzuhalten. Der Versuch der Resymmetrisierung des Lebens in der Facebook-Welt ist offenkundig. Das ist der Preis der Skalierbarkeit. Lebensphilosophisch könnte man hier einwenden: Nein, liebe Standardisierer, das Leben ist ein Prozess der schöpferischen Erneuerung des Ungleichgewichts und ihrer Verwerfungen, und die Diversität, der Überschuss der Zeichen und Formen sind ein Manifest dieser wunderbaren Überproduktion des Lebens. Ihr werdet das Leben nicht zurechtstutzen können, ohne euch selbst abzuschaffen!

Können wir Orte, Places und Zeit in der
Welt der Augenblicklichkeit, der Allgegen-
wärtigkeit, d.h. der Geschwindigkeit
rückerobern?

Wir können hier nicht naiv sein. Die technologische Innovation wird weitergehen. Das Moor’sche Law eskaliert weiterhin die Geschwindigkeitsschwellen des Cyber-Space, die Cyber-Time wird weiterhin im schwarzen Loch der Echtzeit aufgesogen werden. Die Verdichtungs- und Miniaturisierungsarbeit der Zeichen, unserer Welt wird weitergehen. Die Utopie der Echtzeit ist die Utopie vom Ende der Ökonomie, d.h. die Aufhebung des Prinzips der Opportunitätskosten und Transaktionskosten. Blöd dabei ist nur, dass wir altern und sterben und unsere Beziehun - gen schieflaufen. Und auch, dass wir erkranken und zerfallen, dass das Reale in Form von Börsenkrisen, Burn-out und Erderwärmung an das Fenster klopft. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ja, wir können uns die Places zurückerobern. Was wir aber damit in Kauf nehmen müssen, ist, in bestimmten „Rankings“ nicht vertreten zu sein, quasi aus bestimmten „Status - sphären“ herauszufallen. Nicht ganz oben bei Google vorzukommen, oder im Seitenblicke-Magazin. Seine eigene Skala, seine eigenen Benchmarks zu bestimmen, setzt Mut voraus. Wie viel haben wir dabei zu verlieren? Die Frage der „Fallhöhe“, den Gradien - ten der Verlustangst gilt es zu verstehen. Jeder von uns hat seine scheinbare Fallhöhe. Die Absetzbewegungen werden aber zunehmen, auch die Doppelexistenzen, die Menschen führen. Untertags Banker, in der Nacht romantischer Guerilla-Gardening- Aktivist quasi. Wie auch immer, was den möglichen Wandel und die Wieder-Aneignung von Orten anbelangt, halte ich es mit Bruce Springsteen in „No Surrender“: „We cut some places of our own with these drums and these guitars“.

Das Gespräch führte DORIS LIPPITSCH

Harald Katzmair, Dr., geb. 1969, Sozialwissenschaftler und Philosoph, ist Gründer und Geschäftsführer der FAS.research – Understanding Networks GesmbH, eines internationalen Analyse- und Beratungsunternehmens im Bereich Executive Networking, Public Affairs, Campaigning, Key Account Management und Virales Marketing mit Standorten in Wien und New York. www.fas-research.com