Architektur goes wild

Die Zukunft der Stadt oder das, was sie vielleicht einmal gewesen sein wird.

- ©-

     Im Jahr 1876 schrieb der französische Philosoph Charles Bernard Renouvier eine Novelle mit dem Titel Uchronie. L’Utopie dans l’histoire, eine „apokryphe historische Skizze der  Entwicklung der europäischen Zivilisation, so wie sie nicht gewesen ist, so wie sie hätte sein können“. Renouviers Denken revolutionierte Utopiegeschichten, die sich seit dem 16. Jahrhundert wiederholen. Erstmals wurden im Nirgendwo und Irgendwann angesiedelte Utopien zeitlich verortet. Zugleich ermöglichte es eine neue Dimension der Geschichtserzählung: Was wäre heute, wenn Inquisition oder römischer Machtanspruch nicht stattgefunden hätten? Oder was wird, wenn alles so bleibt, wie es ist, in hundert Jahren sein? Die Uchronie, auch Steckenpferd des Philosophen Bazon Brock und von ihm mit dem Untertitel „Ewigkeitsmanagement“ versehen, taugt vor allem als Modell, wenn man derzeitige utopische Versuche in der Architektur zu verstehen versucht.

     Heutige utopische Projekte entwickeln spekulative Zustandsvermutungen, basierend auf aktuellen Hintergründen, wie boomenden Städten, postindustriellen Landschaften, Müllbergen und Klimakatastrophen. Utopien mag ihr sozialkritisches Potenzial abhanden gekommen sein, jedoch haben sie sich im Gegenzug ein geradezu abenteuerliches Forschen angeeignet. Eine solche forschende Haltung in der Architektur ist weder als post- noch als neo-utopisch, sondern eher als off-utopisch zu bezeichnen – off wie off-topic, offbeat oder off-stage –, eine Architektur also, die eher die Synkopen beachtet als die Takte und aus dem Hintergrund agiert, dafür jedoch umso wirksamer ist. Den Begriff des „off“ in der Architektur verwendete erstmals Svetlana Boym, russische Medienkünstlerin und  -theoretikerin in Harvard, in ihrer Beschreibung der russischen Avantgarde und insbesondere des sogenannten Tatlin-Turms, den sich Vladimir Tatlin 1919 erdachte, in einer Haltung, die Boym als „off-modern“ bezeichnet. Eine Architektur des Off-Modernen bewege sich, so Boym, abseits von gängigen Krisen und Erneuerungsschwüngen, sie ermögliche alternative Beziehungen zwischen Form und Funktion (also keine folgt keiner von beiden) und sie setze neue Potenziale zwischen künstlerischen Techniken, ästhetischer Praxis und politischem Handeln frei. Ein Jahrhundert nach dem Tatlin-Turm, geplanter Sitz der kommunistischen Internationalen, ist Russland weit entfernt von experimentellen künstlerischen Praxen, wie jüngste Repressalien gegen eine harmlose Girls-Riot-Gruppe zeigen. Geschichte verläuft eben nicht linear, sondern eher in Wellenbewegungen, und zuweilen eben auch uchronisch.
Madrid Toxic ©AMID. cero9 and Colectivo Cuartoymitad

     TOXIC MADRID & DUNE CITY

Zurzeit entstehen in unterschiedlichen Kontexten teils abenteuerliche Visionen für zukünftige Städte, die eine erstaunliche Bodenhaftung aufweisen. Ganz im Sinne einer Uchronie werden heutige Bedingungen, die alles andere als rosig sind, in konkrete Anderszeiten und teils gespenstisch anmutende Ambiente transferiert. Weit entfernt von jeglichem Bauauftrag haben diese Projekte dennoch eine brisante Relevanz. Wenn die Stadt im Jetzt nicht lösbar ist, macht es durchaus Sinn, sie in das Jahr 2025 zu verlegen, um zu sehen, was dann passiert. „Toxic Madrid“, ein vergiftetes Madrid, so sehen es etwa die spanischen  Architekten von Amid.cero9. Hintergrund des Projektes bildet der angeschlagene Immobilienmarkt von Madrid. „Toxic Madrid“ zeigt die Gran Via, also beste Gegend heute, im Jahr 2025, bzw. zeigt das, was übrig geblieben sein wird vom großen Geschäft mit den Grundstücken: Archaisch anmutende Maschinen zerteilen die letzten Trümmer, die ausharrenden Bewohnenden stehen ratlos vor einer neuen, ruinös anmutenden Stadtnatur.
     Mit Nachhaltigkeit im klassischen Sinn haben diese Projekte nur mehr entfernt zu tun. Der schwedische Architekt Magnus Larsson spricht etwa von einer notwendigen „post-sustainable Attitude“, also einer nach-nachhaltigen Haltung. Larsson bedient sich spekulativer Wissenschaften, um Neues zu erproben. In einem „wissentlichen Missbrauch“ verwendet er den Bacillus Pasteurii, einen Mikroorganismus, der von US-Wissenschaftlern getestet wurde, um Böden in Erdbebenzonen zu verfestigen. Das Projekt, das bereits etliche Preise erlangte, soll unbewohnbare Wüstengebiete bewohnbar machen. Loser Sand wird durch (eine ganze Menge von) Bazillen zu festem Kalzit und formt wandernde Dünen zu nutzbaren Strukturen. Magnus Larsson wäre kein Utopist und kein Uchronist, wenn er nicht den Maßstab des Vorstellbaren sprengen würde: Dune City soll sich quer über die Sahara auf einer Länge von 6.000 Kilometern erstrecken.

     TOMORROW’S THOUGHTS TODAY IN LONDON
Junge Architekturbüros zeichnen heute weniger und forschen mehr, eine gute Entwicklung! So etwa Liam Young, Urbanist, Designer, Futurist und Gründer des Büros Tomorrow’s Thoughts Today in London. Young und sein Think-Tank sind nicht anders als „wild“ zu beschreiben. Illustrationen erinnern an Stills aus Ridley Scotts Alien, Modelle fliegen (tatsächlich) als Untertassen im Raum, Vorträge werden mit Hilfe eines Roboterarms gehalten. Das Off-Utopische erlaubt solche Ausflüge in das Spekulative, zugleich fungiert es als kritisches Instrument, um die Konsequenzen der auf uns zukommenden Zukunft zwischen Technologie und Biologie zu debattieren. Young leitet auch das „nomadische“ Studio „Unknown Fields Division“ auf der Architectural Association in London, eine der zwei  renommierten Architekturschulen der Stadt. Jedes Jahr unternimmt er mit Studierenden eine Exkursion „an das Ende der Erde“, in möglichst unreale, vergessene, entfremdende Landschaften, wo ökologische Fragen längst obsolet geworden sind, off-ökologisch also. Ein Exkursionsprogramm nach Lappland klingt wie Steppenwolf für Urbanisten: „We will dance along the date line, our paths illuminated by twin electric skies, as we spend neon afternoons in the city and bask under the flickering Aurora in the wilds of the frozen tundra. We will stalk the arctic fox, marvel at the vast military outposts scanning the frontier and listen for the roar of ice road truckers snaking along the oil lifeline stretching south.“ (Liam Young, Unknown Fields Division, AA). Auch so kann man Architektur unterrichten, als Off-Utopie. Die Zukunft der Architektur ist keine paradiesische Hypothese, sie ist eine schwer belastete Hypothek, die es auszulösen gilt, auch durch Architektur. Das sollten wir Studierenden vermitteln.

Text: SABINE POLLAK

Zu hören und sehen sind Amid.cero9, Magnus Larsson und Liam Young neben Lars Schmid, Jan Tabor, Sibylle Hamann und Chicks on Speed beim Symposium Superstadt der Kunstuniversität Linz am 18. Oktober 2012 in Linz.
www.superstadt.at