Eine Frage des Überlebens

Der italienische Architekt Emilio Caravatti engagiert sich seit Jahren für AFRICABOUGOU in West­afrika. QUER hat sich mit ihm über die ursprünglich nubische Lehm- und Gewölbebauweise in Burkina Faso und Mali unterhalten, die in enger Zusammenarbeit mit Dorfbewohnern entsteht. Im Vordergrund steht dabei das Netz menschlicher Beziehungen für eine Architektur mit sozialem Charakter.

Sind die Schule und Gesundheitsstation in Mali die ersten Projekte, bei denen Sie gemeinsam mit der Bevölkerung planen und bauen? Oder haben Sie schon für die westafrikanische Initiative AFRICABOUGOU geplant?

Nach vielen Reisen habe ich eine Leidenschaft für neue Orte entwickelt. Ich habe in dieser Zeit begonnen, meine Kontakte zu Missionaren aus Mali und Burkina Faso zu pflegen. Dadurch konnte ich meine persönlichen Erfahrungen vertiefen. So ist AFRICABOUGOU 2006 in Westafrika entstanden. Die Tagesheimschule in der Großstadt Bobodioulasso ist der erste Bau,

Tagesschule N'tyeani, Mali, 2005, Emilio Caravatti ©Emilio Caravatti

der vor zehn Jahren in Burkina Faso entstanden ist. Die Dorfschule in N’tyeani in der Savanne wurde hingegen in enger Zusammenarbeit mit der Dorfgemeinschaft, rund 300 Einwohnern, gebaut. Diese Erfahrungen wurden auf andere kleine Kommunen und Baustellen übertragen, immer mit dem gleichen Bestreben, eine enge Bindung zum Ort zu haben. Nicht zufällig sind all diese Projekte in einer geografisch überschaubaren Zone realisiert worden, um ein dichtes Netz an menschlichen Beziehungen aufzubauen, die grundlegend für die Umsetzung dieser Bauten sind.

Wie sind die Behördenwege für einen Europäer in Mali?

Wir versuchen, den bürokratischen und verwaltungstechnischen Strukturen in diesen westafrikanischen Ländern zu folgen. In Mali wurden 1996 Verwaltungseinheiten von ländlichen Kommunen gegründet. Jede hat einen Bürgermeister und eine Reihe von Bereichsverantwortlichen, die jeweils für einen Sektor – Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, Verwaltung etc. – zuständig sind. Durch das überschaubare Gebiet sind unsere Behördengänge personengebunden. Um eine Schule zu bauen, gibt es verschiedene bürokratische Schritte: vom ersten Kontakt mit den Verwaltungsbehörden (Bürgermeister und Vertreter der ländlichen

Caravatti ©Emilio Caravatti

Gemeinschaft) über Treffen mit der Dorfbevölkerung, der Bildung eines Komitees für die Bauprojektleitung – bei dem Bau einer Schule ist auch die A.P.E., eine Art Elternvereinigung, beteiligt –, bis hin zur Logistik der Bauarbeiter, die teils auch aus umliegenden Dörfern mit Essen und Schlafplätzen versorgt werden. Das sind viele Schritte mit unterschiedlichsten Anforderungen.

Die Bevölkerung ist auch zugleich Nutzer: Über welche Wünsche waren Sie erstaunt – welche schätzten Sie falsch ein? Wie verlief die Entscheidungsfindung bis zu den endgültigen Bauten?

Leitung und Koordinierung solcher Bauprojekte sind umfangreich und anspruchsvoll. Alles muss entschieden und in der Kommune festgelegt werden: von den Kontakten auf Gemeinschafts-ebene über kleine praktische Anweisungen zur Versorgung der Arbeiter bis hin zur Organisation der Dorffrauen, Wasser für eine Baustelle zu beschaffen. All das wird in langen Besprechungen festgelegt. Ich werde immer wieder von neuen, unterschiedlichsten, teils unerwarteten Problemen sowie Lösungen überrascht. Wie auf der letzten Baustelle im Dorf namens Fansirà Corò, wo sich zwei Tage lang keine fremde Person im Dorf aufhalten durfte – ein Fetisch wachte über die Gemeinde, und derjenige, der seine Blicke gekreuzt hätte, wäre daran gestorben, sagt man … Schwarze Magie und der Glaube an den bösen Blick sind dort tief verwurzelt, und es ist nicht immer einfach, zwischen den Zeilen

Caravatti ©Emilio Caravatti

lesen zu können. Daher sind Entscheidungen und Motive für uns nicht immer leicht zu verstehen. So lernt man aber behutsam zu sein, großen Respekt für Traditionen, Glauben und soziale Regeln aufzubringen. Um auf Ihre Frage zu antworten, was wir falsch gemacht haben, muss man sich vielleicht bewusst machen, dass Fehler oder besser Unverständnis im Umgang mit Menschen völlig normal sind. Ich versuche natürlich, so wenig Fehler wie nur möglich zu machen und mit jedem Auftrag mehr über einen Ort, Menschen und deren Kultur zu lernen.

Wie kam es dazu, in Lehmbauweise, mit Ziegeln zu bauen bzw. auch diese selbst, gemeinsam mit der Bevölkerung, herzustellen?

Die traditionelle Lehmbauweise hat der westafrikanischen Architektur einen sehr starken Charakter verliehen. Deshalb arbeiten wir mit Lehmziegeln, die entweder mit herkömmlichen landwirtschaftlichen Geräten direkt auf der Baustelle hergestellt oder von ehemaligen Gebäuden wiederverwendet werden. Die neue Rückbesinnung auf die Lehmbauweise und Gewölbebauweise mit Lehmziegeln ist kein Wiederaufleben dieser Technik in dem Sinn, sondern zeigt, dass der Gebrauch eines traditionellen oder modernen Werkstoffs – sei es Schlamm oder Stahlbeton – einfach wertfrei ist. Man verwendet den Werkstoff, der günstig zur Verfügung steht, nicht zuletzt, um auch künftige Wartungsarbeiten zu erleichtern. Das Verfahren und jene Bauweise kommen zum Einsatz, die der traditionellen Praxis einer Region entsprechen und das lokale Wissen einbinden. Wichtig ist, dass Lehmziegel nur in bestimmten Perioden, wenn nicht auf dem Feld gearbeitet wird, produziert werden. Die ganze Gemeinschaft trifft dann zusammen, um Lehmziegel herzustellen, je nachdem, was und wie viele jede Familie für ihren Bau braucht.

War es schwierig, vor Ort Handwerker für die Gewölbebauweise zu finden?

Diese kommt ursprünglich aus Nubien (Süd­ägypten, Sudan) und wurde nach ihrer sogenannten „Umweltverträglichkeitsprüfung“ nach Mali gebracht. Wir haben nach den Studien von Hassan Fathy in den 1940er Jahren mit der Association Voûte Nubienne in Burkina Faso (www.lavoutenubienne) Kontakt aufgenommen, die diese Technik seit

Caravatti ©Emilio Caravatti

rund zehn Jahren in ländlichen Gebieten Westafrikas umsetzt. Dabei wurden anfangs kleine Modelle erstellt, um der Bevölkerung die Vorteile dieser Technik aufzuzeigen. Mittlerweile hat sich eine Gruppe von rund 30 Personen gebildet, die diese Technik im Wohnbau anwenden und die Lehre auch weitergeben können.

Wie muss man sich den gesamten Projektverlauf in einem afrikanischen Dorf vorstellen?

In diesen Breitengraden wird viel und ausgiebig kommuniziert, mit einfachen Zeichen – wortwörtlich, im Sinne von Anweisungen. Funktionalität, Durchführbarkeit und eine Menge gesunder Menschenverstand sind entscheidend, um mit den wenigen Mitteln, die zur Verfügung stehen, eine Schule in der Savanne zu bauen, die vor großer Hitze (45 Grad) und in der Regenzeit vor starkem Regen schützen soll. Wichtig ist, die Versorgung der Arbeiter mit Essen zu sichern, die wenigen Werkzeuge, die zur Verfügung stehen, gut zu nützen und einer Gemeinschaft ihre Stärke bewusst zu machen!
    In der Savanne wird Backstein generell nur für kleine handgefertigte Objekte benutzt, wie Töpfe, die mit niedriger Temperatur in Holzstapeln gebrannt werden. Es gibt also keine Alternative zum traditionellen Lehmziegel, der dort bankò genannt wird. In den Städten baut man fast nur mit Beton. Das sind zwei unterschiedliche Welten, nur wenige Kilometer voneinander entfernt! Mag sein, dass das nicht gleich zu verstehen ist, aber eine allgemeine Sichtweise auf diese Regionen ergibt keinen Sinn. Heute leben 50 Prozent der westafrikanischen Bevölkerung nicht mehr in ländlichen Gebieten und in Hüttendörfern, sondern in großen Städten, in überbevölkerten Megazentren. Hier baut der offizielle Bausektor mit Beton, während in den riesigen Elendsvierteln provisorische Schutzwände aus Abfallprodukten errichtet werden.

Sind ökologische Überlegungen in diesen Breitengraden überhaupt ein Thema?

Ökologie ist von einer westlichen, industrialisierten und vereinheitlichten Weltanschauung geprägt. In anderen Lebenswelten betrachten wir die Realität unvermeidlich aus einem völlig anderen Blickwinkel. Horizonterweiternd kann ich sagen, das Problem der Nachhaltigkeit in diesen Regionen ist eng mit dem Thema des Überlebens verbunden. Daraus folgt eine völlig andere Sicht der Dinge. Natürlich werden lokale Werkstoffe verwendet, weil es gar keine Alternative dazu gibt, wie die weite Verbreitung von Lehmziegelarchitektur das veranschaulicht. Da gibt es nichts zu lehren oder zu importieren.

Caravatti ©Emilio Caravatti

    Überall auf unserem Planeten, in dem die Menschen immer „globaler” werden, bemüht man sich um eine Architektur, die mit dem Boden, auf dem sie entsteht, verbunden ist, den klimatischen und sozialen Problemen entspricht.
    Ich möchte diese Bauweise als „meteoritisch“ bezeichnen, nicht als „ökologisch“, denn auf diesen Begriff reagiere ich geradezu allergisch. Weil gute Architektur ohnedies Erfahrungen und Beziehungen ausdrückt und beinhaltet, braucht man ihr keine Attribute wie „ökologisch“ umhängen. Das hat in den letzten Jahren nur zu sterilen Etikettierungen wie „Öko-, Bio-, nachhaltige Architektur …“ geführt.
    Der Bau einer Schule für eine kleine Dorfgemeinschaft in der westafrikanischen Savanne enthüllt tiefe und grundlegende Bedürfnisse. Ob das Schulprojekt nachhaltig im Sinne eines sozialen Prozesses ist, Architektur mit Schlichtheit und Funktionalität nach reellen Bedürfnissen zu realisieren, wird sich zeigen.
    Meine Erfahrungen haben mich in der Überzeugung bestärkt, dass Architektur an jedem Breitengrad unseres Planeten einen gemeinsamen Nenner zwischen Realität und Durchführbarkeit braucht.

Emilio Caravatti erhielt den
Wienerberger Brick Award 2010
in der Kategorie Special Prize

Das Gespräch führte GISELA GARY
Übersetzung aus dem Italienischen:
STEFANO ARMANDI, DORIS LIPPITSCH