Die Erfindung der Queer Gothic

Horace Walpole (1717-1797) gilt als der Erfinder der modernen Horrorliteratur und Begründer der Neogotik des 19. Jahrhunderts. In Twickenham bei London zeugt noch heute das Schloss Strawberry Hill vom Wirken des exzentrischen Sonderlings. Wie sein Roman Das Schloss von Otranto bildet auch der Bau in Twickenham eine Art Fluchtpunkt in eine romantische Gegenwelt. 

Von Uwe Bresan

Weiß strahlt der lang gestreckte Baukörper im Sonnenlicht. Ziselierte Kamine und feingliedrige Ecktürmchen ragen in den Himmel. Ihre Verteilung gibt Aufschluss über die verschiedenen Bau- und Erweiterungsphasen des Hauses. Früher reichte der Blick von hier bis hinunter zur Themse. Doch längst haben sich mehrere Reihen stattlicher Wohnhäuser zwischen den Fluss und Strawberry Hill geschoben. Strawberry Hill, so nannte der englische Politiker, Schriftsteller und emsige Chronist seiner Zeit Horace Walpole seinen beschaulichen Landsitz in Twickenham vor den Toren Londons. Den Ursprungsbau, ein bescheidenes Cottage, hatte Walpole 1748 von einer Londoner Witwe erworben, dazu zwei Hektar des umgebenden Landes. Bald darauf begannen die ersten Umbauarbeiten. Sie sollten fast 30 Jahre dauern und aus dem unscheinbaren Besitz eines der berühmtesten Anwesen im England des späten 18. Jahrhunderts machen. Dabei waren es weder seine Größe noch seine Pracht, wie man zunächst vielleicht vermuten könnte, die den Ruf von Strawberry Hill begründeten. Tatsächlich gab es damals eine Vielzahl weit größerer und weitaus prächtigerer Anwesen. Was Walpoles Landhaus über die Grenzen Englands hinaus berühmt machte, war sein so ganz anderer Charakter, sein neuartiger Stil. Denn während überall im Land Villen nach dem Vorbild des venezianischen Renaissance-Baumeisters Andrea Palladio entstanden und sich die Gentry, die englische Oberschicht der Zeit, in eine italienische Villegiatura, ein sonniges Arkadien, träumte, schuf Walpole mit Strawberry Hill den Ausgangspunkt eines kommenden Gothic Revival. Es sollte der vorherrschende Baustil des 19. Jahrhunderts werden.

Historischer farbiger Stich von Strawberry Hill - Bibliothek ©Farbige Stiche aus: A Description of the Villa of Horace Walpole, Youngest Son of Sir Robert Walpole Earl of Orford, at Strawberry Hill, near Twickenham. With an inventory of the furniture, pictures, curiosities, etc.Historischer farbiger Stich von Strawberry Hill ©Farbige Stiche aus: A Description of the Villa of Horace Walpole, Youngest Son of Sir Robert Walpole Earl of Orford, at Strawberry Hill, near Twickenham. With an inventory of the furniture, pictures, curiosities, etc.

Alle Böden, Wände und Decken des Hauses werden von einer gotischen Rocaille beherrscht. Sie setzt sich zusammen aus exakt übernommenen Zitaten historischer Bauten, aus phantasievollen Interpretationen und wohl auch manchem frei erfundenen Detail. Horace Walpole legte damit den Grundstein für das so genannte Gothic Revival. Unter dem Begriff der Neogotik sollte es auch auf dem Kontinent der vorherrschende Baustil des 19. Jahrhunderts werden.
 

Die spleenige Folly eines Exzentrikers vor den Toren Londons

Walpole vertauschte das klassizistische Ideal seiner Zeitgenossen gegen ein idealisiertes Mittelalter, eine romantische Gotik: Gegen die ruhigen, zentral-symmetrisch geordneten Baukörper des Palladianismus mit ihren strengen dorischen, ionischen oder korinthischen Säulenordnungen, ihren vorspringenden Tempelfronten und ihren pseudo-antiken Dekorationen setzte er sein aus unterschiedlichsten Baukörpern malerisch komponiertes Schlösschen. Mit Zinnen besetzte Mauern, ein runder Festungsturm, ein schmaler Bergfried und unzählige Erker gaben Strawberry Hill das Aussehen einer mittelalterliche Burg – einer Burg allerdings im Diminutiv, das heißt: einer Burg im Puppenstubenformat. Das Gebäude ist eine reine Attrappe: Hinter den Zinnen verbirgt sich kein Wehrgang, der vermeintliche Festungsturm würde keinem feindlichen Ansturm widerstehen und kein Feind ließe sich aus dem Bergfried erspähen. Strawberry Hill ist das Spielhaus eines erwachsenen Mannes, eine spleenige Folly, aber vor allem ist es eine Provokation gegen die Geschmacks- und Stilkonventionen der Zeit. Und das gilt nicht nur für das Äußere von Strawberry Hill, sondern erst recht für das Innere von Walpoles neogotischer Miniatur: Der Grundriss widersetzt sich jeder formalen Ordnung. Man findet keine Spur einer klassischen Raumhierarchie oder Raumverteilung. Selbst Bodenniveaus und Raumhöhen wechseln mitunter von Zimmer zu Zimmer, so als ob der Bau tatsächlich über Jahrhunderte gewachsen sei. Dazu kommen Dekorationen, die sich frei und lustvoll, das heißt ohne jeden Anspruch auf stilistische Einheitlichkeit, Genauigkeit oder auch nur Angemessenheit, aus der englischen Gotik des 12. bis 16. Jahrhunderts speisen. Das Vorbild eines gotischen Grabmals aus der Abtei von Westminster etwa wird kurzerhand in einen beschaulichen Kaminsims verwandelt, während sich das Muster des steinernen Rosettenfensters der 1666 zerstörten, nur in Stichen überlieferten Londoner Kathedrale Old Saint Paul’s als Stuckdecke des so genannten Runden Salons wiederfindet. Seinen Höhepunkt feiert Walpoles Zitatespiel allerdings im Treppenhaus. Hier verbinden sich so viele Vorlagen zu einer alle Oberflächen beherrschenden, gotischen Rocaille, dass es kaum noch möglich ist, exakt übernommene Zitate von phantasievollen Interpretationen und wohl auch manchem frei erfundenen Detail zu unterscheiden.

Historischer farbiger Stich von Strawberry Hill - Galerie 1. Obergeschoss ©A Description of the Villa of Horace Walpole, Youngest Son of Sir Robert Walpole Earl of Orford, at Strawberry Hill, near Twickenham. With an inventory of the furniture, pictures, curiosities, etc.

Für eine aufwendige Hausmonografie ließ Horace Walpole alle Räume des Gebäudes in farbigen Stichen wiedergeben.
 

Galerie im 1. Obergeschoss von Strawberry Hill ©Foto: Alamy

Der aufwendigste Raum des Hauses ist die so genannte Galerie im ersten Obergeschoss. Ein vergoldetes Fächergewölbe überfängt den Saal. Eine statische Funktion besitzt das Gewölbe nicht, es ist reine Dekoration. / Foto: © Alamy
 

Die Erfindung des Schauerromans: Das Schloss von Otranto

Als Mitglied der englischen Oberschicht und als Parlamentspolitiker wird Walpoles unausgesetzte Bautätigkeit im nahe gelegenen Twickenham natürlich von der Londoner Gesellschaft mit großem Interesse und zunächst auch mit großer Skepsis verfolgt. Diese weicht jedoch spätestens nach 1764 einer allgemeinen Neugier. Es ist das Jahr der Veröffentlichung des Romans The Castle of Otranto, mit dem Walpole en passant die Gattung des modernen Schauerromans, der Gothic Novel, begründet. Über Nacht verbreitet sich die im Mittelalter angesiedelte Erzählung um den Erben von Otranto, dessen Ahnen einst durch einen heimtückischen Mord in den Besitz des Schlosses kamen und der nun deshalb von Geistern und Dämonen heimgesucht wird, in halb Europa. Und es dauert nicht lange, da stellen die Leser einen Bezug zwischen dem fiktiven mittelalterlichen „Schloss von Otranto“ und dem merkwürdigen Zuhause des Autors in Twickenham her. Kurzerhand machen sie Strawberry Hill zur Pilgerstätte. Walpole verlangt Eintrittsgeld von einem Pfund, öffnet sein Haus von Mai bis Oktober jeweils für drei Stunden am Nachmittag und bittet seine Besucher im allerhöflichsten Ton darum, auf das Mitbringen von Kindern zu verzichten. Für wen die Anreise – etwa vom Kontinent – zu beschwerlich ist, für den lässt Walpole in der hauseigenen Druckerei, der Strawberry Hill Press, wiederum einen umfassenden Führer drucken: „A Description of the Villa of Horace Walpole, Youngest Son of Sir Robert Walpole Earl of Orford, at Strawberry Hill, near Twickenham. With an inventory of the furniture, pictures, curiosities, etc.“ Zunächst als reiner Textband ausgeführt, später auch mit Stichen ausgestattet, erläutert Walpole in den „Descriptions“ nicht nur minutiös die einzelnen Räume seines Hauses, ihre Ausstattung und Gestaltung, sondern listet auch pedantisch seine diversen, den unterschiedlichsten Kunst- und Interessensgebieten entstammenden Sammlungen auf – darunter Gemälde, Ritterrüstungen und Porzellangeschirre. Ganz nebenbei erfindet Walpole damit auch noch das moderne Genre der Haus- oder Gebäudemonografie.

 Zeichnung von John Carter, The Cabinet at Strawberry Hill, 1789 ©John Carter - The Cabinet at Strawberry Hill

Zeichnung von John Carter, The Cabinet at Strawberry Hill, 1789
 

Ohne Horace Walpole keine „Games of Thrones“

Im Angesicht seiner vielfältigen und umfassenden Lebensleistungen darf es nicht verwundern, dass seit Walpoles Tod im März 1797 – Er wurde fast 80 Jahre alt! – Historiker, Literaten und Architekten gleichermaßen mit seinem Erbe ringen. Den Historikern hinterließ er tausende Briefe, Notizen und Tagebuchaufzeichnungen, die ein lebendiges Bild der Zeit malen. Sie füllen heute die 48 Bände der Yale Edition of Horace Walpole‘s Correspondence. Den Schriftstellern und Drehbuchautoren wiederum schenkte er mit seinem Schloss von Otranto die moderne Horrorfiktion. Eine Serie wie Games of Thrones wäre ohne ihn undenkbar!

Den Architekten schlussendlich hinterließ er Strawberry Hill als ersten Versuch einer neuen gotischen Baukunst. Sein Einfluss wirkte hier bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und mindestens auch bis nach Wien zu Friedrich von Schmidts monumentalem Rathausgebäude im neogotischen Stil. Wie aber lässt sich nun ein solches Lebenswerk in seiner erstaunlichen Vielgestaltigkeit mit der Biografie Walpoles verbinden? Oder besser: Wie lässt sich dieses umfassende und übergroße Werk aus der Lebensgeschichte des Politikers, Dichters und Architekten heraus begründen? Das ist eine der zentralen Fragen, die seit dem Tod Walpoles immer wieder diskutiert wird...

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Farbige Stiche aus: A Description of the Villa of Horace Walpole, Youngest Son of Sir Robert Walpole Earl of Orford, at Strawberry Hill, near Twickenham. With an inventory of the furniture, pictures, curiosities, etc.