Madame Rêve

Besuche bitte nur 15 Minuten – So stand es auf dem Türschild eines devastierten Hauses im Stadtkern Beiruts geschrieben, als die libanesische Architektin und Designerin Lina Shamma es erstmals sah. Das war nach dem langjährigen Bürgerkrieg (1975–1990) in den 1990ern, nach ihrem Exil in die USA und später nach London. Zu Besuch in ihrem Stadthaus im Saifi Village.

Von Doris Lippitsch

Beirut, Saifi Village – Das große Eckhaus liegt südöstlich der Stadtmitte an der ehemaligen Green Line, die den christlichen vom muslimischen Stadtteil Beiruts trennte und während des Bürgerkrieges als lebensgefährliche und heiß umkämpfte Sniper Alley galt. Die Gebäudefassade war von Geschossen durchsiebt, das halb verfallene Stadthaus bestand größtenteils nur noch aus Schutt. Seitdem hat sich das Stadthaus der Architektin, die ihr Studium an der American University of Beirut absolvierte und leidenschaftlichen Kunstsammlerin Shamma gewandelt.

Die gesamte libanesische Haupt- und Küstenstadt hat sich seit dem Bürgerkrieg radikal verändert. Mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung lebt in Beirut. Das sind Maroniten, orthodoxe Christen, Aramäer, sunnitische und schiitische Muslime, Drusen, Juden – insgesamt 18 offiziell anerkannte Religionsgemeinschaften gibt es im Libanon.

Ultramodernes Beirut nach dem Bürgerkrieg

Nur wenig erinnert heute im Stadtzentrum an das alte historische Beirut. Schnell wurde die durch den langen Krieg zerstörte Stadt wieder aufgebaut. Mehr als zwei Millionen Libanesen gingen in der Kriegszeit ins Exil – nach Brasilien, in die USA, nach Kanada oder Australien, viele auch nach Frankreich, dem nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Jahre 1916 Syrien, der Libanon und das spätere Palästina im geheimen Sykes-Picot-Abkommen zugesprochen worden waren. Nach Bekanntwerden des geheimen Paktes zwischen Frankreich und Großbritannien wurde dieser in ein Protektorat umgewandelt. Seit 1948 ist der Libanon offiziell unabhängig.

Madame Rêve - Ansicht 1 ©Foto: Noël Nasr

Stier-Skulptur des chilenischen Architekten und Bildhauers Roberto Matta aus dem
südfranzösischenSt. Paul-de-Vence im lichtgefluteten Wohnbereich / Foto: © Noël Nasr
 

Viele Libanesen sind nach dem Bürgerkrieg nie wieder zurückgekehrt. Nicht so Lina Shamma. Auf dem Weg in ihr Stadthaus queren wir die Rue à caractère traditionel, was so viel wie recht lieblos „Straße mit traditionellem Erscheinungsbild“ heißt. Wie diese kleine Straße einmal genannt worden sein mag? Hier sieht man noch alte Gebäude, die noch nicht demoliert oder entkernt worden sind. Genau so hat die Stadt einmal ausgesehen, vor nicht allzu langer Zeit. Souks sucht man hier vergeblich, sie sind aus dem Stadtbild gänzlich verschwunden. Anstelle findet man unweit die Beirut Souks mit edlen Louis Vuitton oder Georgio Armani-Boutiquen in entseelter, weil entkernter Investorenarchitektur. Sie sind auffallend leer.

Wir biegen schließlich in die kleine Gasse ein, in der wir Lina Shamma treffen werden. Hier gibt es kleine feine Designerboutiquen, wir befinden uns im neuen hochpreisigen Design und Art District. Vor über zehn Jahren gründete sie mit Hala Mouzannar Madame Rêve, eine Vintage-Boutique für Schmuckdesign in Beirut. Heute modelliert sie Keramiken.

Die Architektin und Designerin Lina Shamma © Foto: Noël Nasr

Lina Shamma, Architektin, Designerin und passionierte Kunstsammlerin,
in ihrem Stadthaus im Sai Village / Foto: © Noël Nasr
 

Die Fassade ihres Stadthauses nimmt sich zurück, sie ist recht schlicht. Die hohe hufeisenförmige Glasfront mit bunten, geometrisch angeordneten Glasscheiben hingegen erinnert an Piet Mondrians Werk. Ich läute an der Gegensprechanlage, eine Metalltür mit eloxierter Oberfläche öffnet sich und wir betreten ein breites, großzügiges Stiegenhaus, das mit dunklen Steinplatten, wohl aus Italien, verlegt ist. Es duftet hier nach Weihrauch, der in Schalen und mit Skulpturen den Eingang säumt. 4,6 Meter hohe Räume eröffnen sich hier dem Blick der Besucher. Der Lift im Empfangsbereich in der ersten Etage trennt die Blickachse und bietet zugleich Sichtschutz zur großen Galerie hin, in dem Besucher mit Lederfauteuils und Couchtischen der französischen Designerikone und Grande Dame Charlotte Perriand begrüßt werden. Überall Gemälde, Malereien, Skulpturen, alte und neue Möbel sowie antike Teppiche, mit Naturfarben neu gefärbt. Dieser zentrale Raum öffnet sich zur Marmor-Bar mit einem prachtvollen Luster aus dem osmanischen Reich hin. Wie alt dieser Kronleuchter ist, kann Shamma nicht genau sagen. „Jedenfalls sehr alt und er war sehr teuer, aber ich wollte genau diesen haben!“ Von der Bar, von Shamma aus edlem Carrara-Marmor entworfen, zweigen das Büro, ein Leseraum und Esszimmer, die Terrasse und der Küchenbereich samt Sitzecke und nischengroßem, verglastem Außenbereich mit Oberlicht ab, wo eine exotische Pflanze in Terracotta-Boden bedächtig im Sonnenlicht gedeiht. Insgesamt sind es 19 Räume.

Madame Rêve - Ansicht 2 ©Foto: Noël Nasr

Wohn- und Empfangsraum mit Designmöbel von Charlotte
Perriand und Frank Lloyd Wright / Foto: © Noël Nasr
 

Die Wände sind weiß oder naturfarben ausgemalt und betonen im Tageslicht die offenen Räume und Nischenbereiche, die mögliche Rückzugsorte sind. Vom Innenhof dringen Stimmen in die lichtgefluteten Räume. Shamma lässt uns Weißen Kaffee servieren, heißes Wasser mit dem Extrakt von Orangenblüten, das leicht süß und herb zugleich schmeckt und dem bekömmlichen Weißen Kaffee eine sehr elegante Note verleiht.

„Das Haus glich einer Geröllhalde“, erzählt die temperamentvolle Designerin als sie es erstmals betrat. Sie war nach einigen Jahren Exil in den USA und in London mit ihrem Mann und Immobilien-Entwickler Namir Cortas nach Beirut zurückgekehrt und hatte das Haus entdeckt. „Es war eine besondere erotische, verspielte Atmosphäre in diesen hohen Räumen, ich habe das Potenzial sofort erkannt.“ Im Jahre 2000 wurde das Haus, oder besser das, was davon übrig geblieben war, erworben und mit den Aufbauarbeiten begonnen, die 2006 durch den bewaffneten Konflikt im Libanon-Krieg (Anm.: im Libanon und in arabischen Staaten besser als Juli-Krieg und in Israel als Zweiter Libanonkrieg bekannt) zwischen der Hisbollah und Israel, in den der Norden Israels, der Libanon und die Golanhöhen involviert waren, vorübergehend unterbrochen und eingestellt werden mussten...

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Titelbild: © Noël Nasr