Die Müllsauger

Müllwägen, die frühmorgens die Straßen verstopfen, Mülltonnen, die scheppernd durch Hauseingänge gezogen werden, Abfalltonnen, die den Hof vollstellen, vor sich hin müffeln und womöglich noch Ungeziefer anziehen – das alles ist in Stockholm und Helsinki Geschichte. Dort saust der Müll mit 70 km/h durch unterirdische Rohre.

Von Jennifer Lynn Karsten

Mülltonnen auf Rädern und Müllwägen sucht man in dem Stockholmer Ökostadtteil Hammersby Sjöstad ver- geblich. Wer hier lebt, entsorgt seinen Müll in festinstallierte Einwurfsschächte vor dem Haus, die entweder eine grüne, blaue oder graue Klappe haben – für Bio-, Restmüll und Altpapier. Diese sind durch unterirdische Röhren mit der Sammelstelle verbunden. Mehrmals am Tag wird der Müll abgesaugt und landet schön sortiert in den entsprechenden Containern in der Sammelstelle außerhalb des Stadtquartiers.
Keine Müllräume, keine Mülleimer, keine Müllwägen, kein Gestank, keine überquellenden Mülltonnen – umweltfreundlich, ökologisch und ökonomisch – so preist Envac sein System schon seit Jahrzehnten an. Eine technische Innovation ist das Müllabsaugen nämlich nicht.

Müllsammelstation in Hammarby Sjöstad, Stockholm ©Visualisierung und Fotos: © Envac

Außenliegende Müllsammelstation in Hammarby Sjöstad, Stockholm / Foto: © Envac
 

Prinzip Müll-Absaugsystem

Bereits 1961 stellte sich der Schwede Olof H. Hallström, der Gründer von Centralsug (heute Envac), die Frage, warum man Müll nicht genauso wie Staub, mithilfe eines einzigen Systems absaugen kann. Er machte sich das Prinzip des Staubsaugers zunutze und entwickelte ein Röhrensystem, an dem sich an verschiede- nen Stellen Motoren befinden, die einen Unterdruck erzeugen und dadurch einen starken Luftstrom verursachen. Das Müll-Absaugsystem, das er damals erfand, wurde in einem Krankenhaus in Sollefteå eingebaut und ist dort bis heute in Betrieb.

Inzwischen sind von der Firma Envac über 600 Müllsauganlagen in über 30 Ländern aktiv. Gerade asiatische und arabische Staaten, in denen ganze Städte aus dem Boden gestampft werden, sind dankbare Abnehmer dieser ökologischen Müllentsorgung. Aber auch in bestehenden Stadtvierteln wie in der Altstadt von Palma de Mallorca oder in Barcelona  findet das Röhrensystem Anwendung, um den historischen Stadtkern für Touristen sauber und attraktiv zu halten.
Inzwischen verschwindet der Müll von weltweit drei Millionen Menschen in den Sauganlagen.

Zersplitterter deutscher Markt

Da die Röhren beim Bau direkt mitverlegt werden, eignen sich gerade große Neubauprojekte und Stadtteilerweiterungen ganz besonders für dieses System. Die Hafencity Hamburg wäre damals ein perfekter Kunde gewesen. Doch die Deutschen hielten eisern am Dualen System fest – Geruchsbelästigung und lärmende Müllfahrzeuge hin oder her. Für einige Jahre unterhielt Envac ein Büro in Hamburg, um im Land der Mülltrenner doch noch ins Geschäft zu kommen. Vergeblich. Denn der Deutsche Abfallmarkt ist zu kompliziert, zersplittert, verstrickt in Seilschaften und Standortpolitik. Envac hat inzwischen andere Märkte erschlossen. Seit 2000 steigt der Umsatz jährlich um rund 20 Prozent. Letztes Jahr belief sich der Vorsteuergewinn des Unternehmens auf 3,4 Milliarden schwedische Kronen (rund 345 Millionen Euro).

Visualisierung Müllstation vor einem Wohnhaus ©Visualisierung: Envac

Müllstation vor einem Wohnhaus. Per Luftdruck wird der Müll abgesaugt und
landet vorsortiert in einem entfernten Container.  / Visualisierung: © Envac
 

Entsorgungssystem "Rööri" in Helsinki

In Kalasatama, einem neuen Wohnviertel in der finnischen Hauptstadt Helsinki, ist die Müllabfuhr Geschichte, denn dort kommt das schwedische System des Müllabsaugens neuerdings zum Einsatz.
Das Entsorgungssystem trägt dort den koketten Namen „Rööri“. Bis zum Jahr 2030 sollen im ehemaligen Hafenviertel 20.000 Wohneinheiten entstehen. Für den „ersten intelligenten Stadtteil von Helsinki“, so die amtierenden Stadtväter Kalasatamas, gehört technische Innovation zum Programm. Jede Wohneinheit, in der 400 bis 450 Menschen wohnen, verfügt über zwei Sammelstationen. Eine Station beinhaltet vier Restmüllent- sorgerstationen, zwei Bioabfälle und je zwei Behälter für Papier und Karton. Laut einer Umfrage des Umweltunternehmens IMU gewöhnen sich Menschen binnen sechs Monaten an das neue System.
Das Absaugen des Mülls ist gut durchdacht: Der Biomüll wird immer als erstes abgesaugt, danach ist der Restmüll dran, der eventuelle Rückstände des Biomülls gleich mit wegfegt. Danach sind Papier und Karton an der Reihe. Sind die Container in der zwei Kilometer entfernten Sammelstelle voll, übernimmt ein Lastwagen den Transport zur Deponie.

Der Müllsauger ist aber nicht für jede Art von Müll geeignet. Sondermüll bleibt Sondermüll. In der Infobroschüre für die Bewohner steht, dass „keine Matratzen, keine Autobatterien und keine Weihnachtsbäume“ in der Müllsauganlage entsorgt werden dürfen. Neben dem sorgfältigen Trennen des Mülls, haben die neuen Stadtteilbewohner auch zu lernen, ihren Müll in handliche Beutel zu verpacken. Nur 20 Liter pro Müllbeutel sind zulässig, ansonsten ist der Müll zu groß und zu schwer, um abgesaugt werden zu können.

The Green Loop - Rendering obere Ebene ©Visualisierung: PRESENT ArchitectureThe Green Loop - Rendering untere Ebene ©Visualisierung: PRESENT Architecture

Das „Green Loop“ besteht aus zwei Ebenen: Oben befindet sich der Garten mit Obst- und
Gemüseanbauflächen, unten die Kompostzone / Visualisierungen: © PRESENT Architecture
 

Green Loop in New York

Das New Yorker Büro Present Architecture macht sich darüber Gedanken, was mit dem Müll passiert, nachdem er eingesammelt wurde. Sie machen den Vorschlag, Abfallentsorgungseinrichtungen direkt in die Stadtplanung mit einzubeziehen. Ihr Projekt „Green Loop“ sieht vor, Kompostierungsanlagen in öffentliche Parks und Erholungsgebiete in New York zu integrieren. Durch ein über die ganze Stadt verteiltes Netzwerk entlang der Uferpromenade lägen die schwimmenden Inseln direkt an der Wasserkante. Auf Straßenniveau könnte man die Kompostierungsanlage erreichen, über der sich die Grünfläche befände. So könnte bis zu einer Million Tonnen Bioabfall sinnvoll verwertet werden.

Die Idee ist gar nicht so schlecht: Da Abfall den einzigen dauerhaften Rohstoff darstellt, müssen wir wohl früher oder später zu komplett geschlossenen Kreisläufen kommen.

Titelbild Visualisierung: © PRESENT Architecture