Reallabor für Großstadtkinder

Eine Botschaft für Kinder von der Stiftung SOS Kinderdorf mit hohem Hausquader und textiler Schuppenhaut von Ludloff + Ludloff in Berlin.

Von Claus Käpplinger

Überraschende Spalten und Zwischenräume sind oft die interessantesten Räume in Städten, wo nicht nur Kinder etwas Neues und vielleicht Geheimnisvolles entdecken können. Viele solcher Zwischenräume existieren derzeit entlang der Lehrter Straße in Berlin, die nordwestlich des neuen Hauptbahnhofs immer noch in eine Stadtwelt bizarrer historischer Brüche und Freiräume eintauchen lässt. Über 150 Jahre hinweg entstanden hier im sozial schwachen Stadtviertel Moabit die seltsamsten nüchternen Zweckgebäude, Kasernen, Metallgießereien, Gefängnisse und Sportanlagen wie auch eine Sozialbausiedlung, die Stadtmission, eine Laubenpieperkolonie oder ein begrünter Trümmerberg. Ein Hinterland inmitten Berlins ist es, wenig urban, aber durchaus reizvoll in seiner seltsamen Mischung, die im Sommer 2017 um einen weiteren solitären Baustein bereichert wurde.

SOS Kinderdorf von Ludloff + Ludloff - Mensa ©Foto: Werner Huthmacher

Ausbildungsrestaurant mit Tagungsräumen, berufsbildender Schule und einem integrativen Hotelfachbetrieb / Foto: © Werner Huthmacher 
 

Auf einer früheren Stadtbrache, einem eigentlich nicht zur Bebauung vorgesehenen Grundstück, bauten das Berliner Architekturpaar Laura Forgassi-Ludloff und Jens Ludloff einen hohen Hausquader mit einer seltsamen textilen Schuppenhaut, die zumindest tagsüber sehr rätseln lässt, was sich wohl dahinter befinden mag. Eine „Botschaft für Kinder“ nennt der Hausherr, den weltweit aktiven Verein SOS-Kinderdorf das Haus, in dem Kinder und Eltern, aber vor allem auch Jugendliche betreut werden und einen Beruf erlernen können. Viele sehr unterschiedliche Nutzungen, wie ein Ausbildungsrestaurant mit drei mietbaren Tagungsräumen, eine berufsbildende Schule und ein integrativer Hotelfachbetrieb, aber auch viele Beratungs- und Verwaltungsräume vereint das neue Gebäude, dessen Architektur so dezidiert anders ist als alles, was derzeit sonst in Berlin entsteht.

Betreuung mit Bühnen und Schutzräumen

„Transparent-leicht-markant-einladend“ wünschte sich der Verein ihr Haus und so ist es nun dank der Architekten auch wirklich geworden, die den Kindern und Jugendlichen vor allem werthaltige Schutzräume und Bühnen schaffen wollten. Über dem fast rundum verglasten Erdgeschoß mit Restaurant erstreckt sich eine mehrschichtige Fassade aus robustem Robinienholz und gewebtem Glas, deren textile und teilweise mobile Außenhülle sich nun ähnlich überdimensionierten Hausschindeln überlappend herunterschuppt. Die markante Außenhülle erweist sich nachts erstaunlich visuell durchlässig und tagsüber durchgehend transluzent wie ein überdimensioniertes Vexierspiel geöffneter und geschlossener Flächen, das stets nur in Teilen preisgibt, was in seinem Inneren geschieht. Dort wechseln sich sehr unterschiedliche Nutzungen von Etage zu Etage ab, die ganz unterschiedliche Fensteröffnungen erhielten, deren Heterogenität man aber außen nun nur noch in Ausschnitten ansichtig wird.

SOS Kinderdorf von Ludloff + Ludloff - Treppenhaus ©Foto: Werner Huthmacher

Architecture Verticale – Ludloff + Ludloff lösen den Anspruch von SOS Kinderdorf mit sehr
unterschiedlichen Nutzungen und Nischen räumlich ein. / Foto: © Werner Huthmacher
 

Der kontrollierten Öffnung nach außen folgt innen eine erstaunlich große Durchlässigkeit in der Vertikalen. Geschoß um Geschoß sind dort trotz sehr divergierender Nutzungen immer wieder mit anderen Raumspalten verwebt, die dezidiert zu Entdeckungen auffordern und zugleich den Anspruch von „SOS-Kinderdorf“  räumlich einlösen für eine offene, sozial orientierte Gesellschaft einzutreten. Vertikal geschichtet, aber weder hierarchisch noch völlig voneinander getrennt, wechselt von Etage zu Etage die Nutzung des Hauses erheblich. Einladend offen gestaltet ist das Erdgeschoß für alle, das schwellenlos zu einer breiten Außenterrasse überleitet – unmissverständlich ein Ort der Begegnung und Information. Die Restaurant-Lehrküche wurde fast völlig transparent ins Eingangsfoyer eingestellt, um die Lehrlinge mit Handicaps oder aus sozial benachteiligten Familien gleich als integralen wie auch kompetenten Teil unserer Gesellschaft bewusst wahrzunehmen.

Kräftige Farben mit Ludloff + Ludloff

Eine Promenade Architecturale Verticale folgt in den Geschoßen darüber mit sehr unterschiedlich gestalteten und eingestellten Treppenkörpern oder -häusern, die elegant oder auch betont rau gestaltet sind, um immer wieder unsere Wahrnehmung und Haptik zu wecken. Wozu starke Farben hinzukommen, für die Ludloff+Ludloff bereits hinreichend bekannt sind. Schließlich war Jens Ludloff ehemals Juniorpartner von Sauerbruch Hutton und die Österreicherin Laura Forgassi-Ludloff Mitarbeiterin im Berliner Büro von Ortner und Ortner, die schon bei ihrem ersten eigenen Haus einen ganz eigenen, recht kontrastreichen, gesättigten Farbkanon entwickelten. Weshalb sich nun hier erneut von Nutzungsbereich zu Nutzungsbereich die Farben stark unterscheiden, von Bordeaux- und Kaminrot, über Meerblau, Safran, Anthrazit zu Braun wechseln, die nun jedem Bereich eine eigene Atmosphäre verleihen – mal wohlige Entspannung und mal wache Konzentration fördern.

SOS Kinderdorf von Ludloff + Ludloff - Innenansicht ©Foto: Werner Huthmacher

25 Hotelzimmer mit Skybar und Dachterrasse in den beiden obersten Etagen / Foto: © Werner Huthmacher
 

Schließlich handelt es sich um ein Lehrhaus für Gastronomie und Hotellerie, wo von den Architekten und einer norddeutschen Behindertenwerkstatt 25 möblierte Hotelzimmer in den beiden obersten Etagen einen Berlin-Aufenthalt sehr anregend wie kurzweilig zu gestalten wissen. Wo nun auch eine kleine Skybar und Dachterrasse zu ganz besonderen Erkundungen von Berlin einladen, die unvergleichliche Panoramen auf die Mitte Berlins und seine derzeit größte Stadtbaustelle Europaviertel nördlich des Hauptbahnhofs anbieten.  Einziger Wermutstropfen ist allein die Gestaltung der Skybar, dessen Barkörper und Farbenwahl den versierten Barbesucher nicht ganz überzeugen können, was aber durch die Qualität der kompakten, aber sehr gut geschnittenen Hotelzimmer mehr als ausgeglichen wird.

Ein Haus vieler unterschiedlicher Nutzungen und Menschen ist hier dem Bauherrn und seinen Architekten gelungen, das gewohnte Schwellen oder Grenzen immer wieder elegant zu reduzieren, ja zu überwinden versteht. Zweifellos ein Solitär, der sich aber aufs Beste in den vorgefundenen heterogenen Bestand des Quartiers einzufügen versteht. Ein facettenreiches und sehr nachhaltiges Haus entstand, das seine sozial orientierten Angebote an Beratung und beruflicher Weiterbildung gerade für die oft schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft gestalterisch wie ebenso funktional aufwertet und selbstbewusst in den Stadtraum in der Mitte Berlins einstellt. Einfach ein faszinierendes Reallabor für Großstadtkinder im offenen Herzen der Stadt, das aber nur möglich wurde, da der Grundstückseigentümer Berlin dazu bereit war, den Baugrund einmal nicht meistbietend zu verkaufen, sondern in Erbpacht an den sozialen Träger zu vergeben.

Titelbild: © Werner Huthmacher