Das leuchtende Vorbild

Design-Welterfolge sind nicht planbar, aber wenn ein Designer und ein Hersteller kongenial aufeinandertreffen, wenn ein Gebrauchsgegenstand entsteht, der sowohl neuartig ist als auch vertraut wirkt, wenn sein ästhetischer Reiz von einer einfachen Form ebenso sehr wie von seiner mechanischen Funktionsweise herrührt – dann kann daraus eine Tolomeo entstehen. Artemides Best- und Longseller kam vor genau 30 Jahren auf den Markt, was in Hamburg in Anwesenheit des Designers Michele De Lucchi gebührlich gefeiert worden ist.

Von Harald Sager 

„In den achtziger Jahren verbrachte ich – wie auch davor und danach – täglich viele Stunden am Schreibtisch. Als Tischleuchte hatte ich eine Naska Loris von Arne Jacobsen, eine der schönsten, die je entworfen worden ist. Aber sie war nicht von mir. Ich wollte etwas Eigenes haben“, erzählt Michele De Lucchi. Der Architekt und Designer beschäftigte sich damals ohnehin mit Leuchten und lieferte Ernesto Gismondi, dem Gründer von Artemide, immer wieder Entwürfe.

Sappers Tizio

Die Messlatte war hoch, denn der Mailänder Hersteller hatte bereits Richard Sappers Tizio aus den frühen siebziger Jahren im Talon, schon damals und bis heute der Inbegriff der technoiden Halogen-Tischleuchte und ein Longseller. Die Tizio war nicht nur stilbildend, sondern machte Artemide auch zum Mitspieler in der Welt des Leuchtendesigns. „Als ich sie das erste Mal sah, war ich verblüfft, denn es gab nichts, dass ihr im Entferntesten ähnlich sah. Ich dachte: Wie kann ich eine Leuchte wie die Tizio entwerfen, die zugleich nicht wie sie ist? Also etwas so Ikonales, so Neu- und Andersartiges?“

Tizio von Richard Sapper ©Foto: © Artemide

Richard Sappers Tizio, bis heute der Inbegriff der technoiden Halogen-Tischleuchte / Foto: © Artemide
 

De Lucchi ging damals in seinen Entwürfen immer vom Lichtemittenten aus, um den herum er die Leuchte konzipierte, und das war bei dem Leuchtenkopf, der ihm vorschwebte, die normale Glühbirne. Halogen schied also schon einmal aus. Was ihn an der Tizio aber am meisten beeindruckte, war, dass sie in alle Positionen schwenkbar war. „Und zwar nur mit einer Hand!“ Das war cool, elegant wie benutzerfreundlich und verdankte sich einem fein austarierten Spiel der Kräfte zwischen dem Sockel und den Gewichten der beiden Arme. Sapper hatte lange an der richtigen wechselseitigen Gewichtung getüftelt. Die Lösung war gut, aber sozusagen bereits an die Tizio vergeben.
Aber es gab eine andere Lösung, und die stand praktischerweise bereits auf De Lucchis Schreibtisch: die Naska Loris. Sie hatte ebenfalls zwei Doppelarme, was sie in alle Richtungen manövrierbar machte, und außen zwei Sprungfedern zur Erhaltung der Spannung in der jeweiligen Position. „Das gefiel mir vom Prinzip her. Aber ich wollte nicht, dass man die Federn sieht, und so kam ich auf die Idee, dass man sie doch in den Schwenkarmen versenken konnte.“

Erster Entwurf der Tolomeo © Skizze: © Michele De Lucchi

Erster Entwurf der Tolomeo / Skizze: © Michele De Lucchi
 

De Lucchis Tolomeo

Dabei kam ihm das Bild einer Angelrute in den Sinn, die ja auch aus dieser selbst und der Schnur besteht, die ihrerseits von der Rolle in Spannung gehalten wird. So entwickelte er eine Mechanik, bei der die Federn an ein heraustretendes Seil angeschlossen wurden, das die Gelenke miteinander verband und dadurch die Spannung in der jeweiligen Stellung aufrechterhielt. Das Stromkabel seinerseits wurde unten am Arm eingeführt, kam am Gelenk wieder zum Vorschein und verschwand im zweiten Arm. Dann gab es noch ein Loch an der Oberseite des Leuchtenkopfs, das indirektes Licht abgab, und einen Dorn ebendort, der zum Schwenken diente. Und außerdem nur eine einzige Schraube unten an der Halterung, Bewegung und Spannung wurden allein von den Gelenken und Federn bewerkstelligt. Topf drauf, fertig!, könnte man sagen, denn tatsächlich erinnert der kegelförmige Lampenkopf an einen solchen.


„Ich wollte den ganzen technischen Kram unter der Haube verstecken und dieser zugleich eine vertraute Form geben.“
Michele De Lucchi


Der Entwurf hatte einen ästhetischen Reiz, der sich sowohl seiner einfachen Gestalt verdankte als auch seinem technisch-mechanischen Appeal mit Seilzügen, Federn und Gelenken. Er war aber nur einer von vielen, die De Lucchi dem Artemide-Chef vorlegte: „Ernesto sah sich den Stapel durch und sagte plötzlich: ‚Diese ist es – die machen wir!’ Das wurde dann natürlich noch ausgefeilt und weiterentwickelt, aber die Grundidee war jetzt vorhanden. So war es immer mit Ernesto: Man legt ihm hundert Ideen vor, und er hat den Blick dafür, was funktioniert und was nicht. Die Entscheidung kommt dann von ihm.“ Dass die Skizze das Potenzial zu einem fertigen Produkt haben würde, war Gismondi anscheinend von Anfang an klar. Dass sich dieses unter dem Namen Tolomeo nicht nur zu Artemides Langzeit-Bestseller, sondern zur quintessentiellen Tischleuchte unserer Zeit auswachsen würde, wohl weniger.

Und auch Michele De Lucchi, der uns auf der in Hamburg ausgerichteten „30 Jahre Tolomeo“-Feier Rede und Antwort steht, kann sich nur wundern. „Nein, ich hätte nie gedacht, dass die Tolomeo so langlebig sein würde – zumal sich die Moden heutzutage so schnell ablösen. Übrigens war sie in den ersten beiden Jahren kein Erfolg. Ernesto ließ sich davon nicht beirren. Dann hob sie langsam ab – und das hat seither nicht mehr nachgelassen!“

Die Tolomeo war somit letztlich ein Gemeinschaftsprodukt von Michele De Lucchi (unter Mitwirkung von Giancarlo Fassina) und Ernesto Gismondi. Der eine traf ins Schwarze und der andere war imstande, es zu erkennen. „Ich habe oft versucht, eine zweite Tolomeo zu schaffen, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen!“, resümiert De Lucchi, ein liebenswürdiger, fein gesponnener Mann, der zur Illustration seiner Worte während des Gesprächs unablässig zeichnet.


„Was wir heute brauchen, ist eine frugale Technologie“
Michele De Lucchi


„Heute hat sich die Tolomeo zu einer großen Familie mit annähernd 100 Modellen ausgewachsen, mit ganz kleinen Küchenleuchten, die mit einem Clip zu befestigen sind, bis hin zu großen Standleuchten, vom Spot bis zur wetterfesten Außenleuchte, in zahlreichen Farben und Materialien, mit Glühbirne oder LED“, sagt Steffen Salinger, Geschäftsführer von Artemide Deutschland. Dazu wurde eigens ein Werk in Ungarn mit einem Ausstoß von über 500.000 Stück errichtet, und man kann Michele De Lucchi nur wünschen, dass er seinerzeit gute Tantiemen ausgehandelt hat. Zudem ist die Tolomeo die Architektenleuchte. Der Großarchitekt Meinhard von Gerkan, der seinen Architektur-Pavillon als Veranstaltungsort für die Tolomeo-Feier zur Verfügung stellte, erwähnte ganz nebenbei, dass davon allein in seinem Hamburger Büro 300 Stück stehen.

„30 Jahre Tolomeo“-Feier in Hamburg ©Foto: © Artemide, Jochen Stüber

„30 Jahre Tolomeo“-Feier in Hamburg / Foto: © Artemide, Jochen Stüber
 

Was ist die Geheimformel der Tolomeo, warum macht gerade sie und nicht irgendeine der Tausenden Leuchten, die jährlich auf den Markt kommen, zum Design-Welterfolg? De Lucchi: „Aus meiner Sicht hat sie einfache, ansprechende Formen und ist praktisch in dem Sinne, dass sie leicht zu bedienen und mit einer Hand in alle Richtungen schwenkbar ist. Ihre mechanische Funktionsweise leuchtet unmittelbar ein und ist zudem Teil der Ästhetik. Alles ist leicht verständlich und vertraut. Da ist nichts Obskures dran: eine ,frugale‘ Technologie. Das ist es, was wir heutzutage brauchen!“

Insofern passte es recht gut, dass Meinhard von Gerkan Veranstalter der Feier war, dessen Motto Make the best of the simplest lautet. Der Pavillon an der vornehmen Elbchaussee – die ortsuntypisch da und dort ausgebrannte Autowracks zierten, der G20-Gipfel war gerade zu Ende gegangen – machte gute kurvige Figur, denn er kommt ganz ohne rechten Winkel aus. Der Hafen lag den Gästen zu Füßen, Michele De Lucchi und Artemides Vizepräsidentin Carlotta de Bevilacqua hielten kurze Reden, der eine zurückhaltend, die andere spritzig, der designaffine Teil von tout Hamburg war da – es war ein rauschendes Fest.


Michele De Lucchi

Portrait Michele De Lucchi © Foto: © Giovanni Gastel

geboren 1951 in Ferrara, studierte Architektur in Florenz und gründete die „Gruppe Cavart“ in Padua, die für radikales Design eintrat. In den 1970er Jahren lehrte er Industriedesign an der Universität Florenz und lernte Ettore Sottsass kennen. De Lucchi wurde einer seiner engsten Mitarbeiter. Sottsass war sein Mentor und ein enger Freund. De Lucchi war Mitglied und Mitbegründer der Bewegungen Cavart, Alchymia und Memphis Group, deren experimentelle Architekturauffassungen sich gegen das damalige Design-Establishment richteten. Als napoleonischer General verkleidet, hielt der junge Architekturstudent 1973 Wache vor der Institution der Mailänder Triennale und protestierte gegen zu viele überflüssige Produkte. In den 1980er-Jahren entwarf De Lucchi für die „jungen Wilden“ postmoderne Möbel, Wohnaccessoires und Laminat. 1988 gründete er das eigene „Studio De Lucchi“, zuvor war er 1979 als Designberater für das Unternehmen Olivetti tätig, bei dem er 1992 zum Chefdesigner ernannt wurde. 1998 gründete er die Firma „amdl“ mit Büros in Mailand und Rom.


Titelbild: Die Tolomeo, die quintessentielle Tischleuchte unserer Zeit / Foto: © Artemide
Portrait Michele De Lucchi: Foto: © Giovanni Gastel