Kannibalische Weltordnung

Die Kriege sind zurück, auch Kriege um Kapital und Ressourcen. Die Ungleichheit zwischen Superreich und dem Rest steigt. Hunger und Not sind auch in Europa zunehmend spürbar.

Von Doris Lippitsch

Seit Jahrzehnten prangert der umstrittene Globalisierungsgegner Jean Ziegler, 83, soziale Ungerechtigkeit und die Tyrannei des globalisierten Finanzkapitals an und wird im Namen des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen nimmermüde, über strukturelle Gewalt und Korruption, „die älteste Waffe der Welt“ und sein im Bertelsmann-Verlag erschienenes Buch Der schmale Grat der Hoffnung über gewonnene und verlorene Kämpfe zu referieren. Wenn er an die weltweite Zivilgesellschaft und die „sanfte Gewalt der Vernunft“ (Bert Brecht) appelliert, sind die Vortrags- und Kinosäle voll.

Nicolas Wadimoffs Filmporträt Jean Ziegler Der Optimismus des Willens feierte im Wiener Gartenbaukino Premiere. Regisseur Wadimoff, ehemaliger Schüler des Soziologen und emeritierten Professors der Universität Genf, folgt ihm dorthin, wo er, Ziegler, sonst nur alleine hingeht. Zieglers Mekka: Kuba. Sein Gott: Ernesto Che Guevara, der verträumte Commandante und charismatische, asthmatische Revolutionär, der smarte, meistgedruckte Poster-Mann – eine Stilikone.

Der rote Christ

Socialismo o muerte – Jean Ziegler hatte 1964 ein wegweisendes Erlebnis, das sein Leben prägen wird: die Begegnung mit dem marxistischen Revolutionär Ché Guevara in Genf. 12 Tage lang ist Ziegler sein Chauffeur, während Guevara als kubanischer Industrieminister auf der internationalen UNO-Konferenz ein Plädoyer für Zuckerrohr hält, das nach dem US-Embargo 70 Prozent des kubanischen Staatshaushaltes sichert. Ziegler ist zu dem Zeitpunkt 30 Jahre alt, Guevara ist 36 und wird noch drei Jahre lang leben. In einem Interview mit Radio Télévision Suisse, RTS, spricht Guevara in brüchigem Französisch von der Wirtschaftsblockade, seinem Kampf für Leistungslöhne, von der Solidarität sozialistischer europäischer Länder, der „neuen brüderlichen Haltung der Menschen“ und mit Charisma von der ausschließlich „moralischen“ Unterstützung, die Kuba lateinamerikanischen Staaten wie Venezuela und Guatemala zusichert. Nach seiner kritischen Rede in Algerien, die das imperialistische System der UdSSR anprangert, wird Guevara nach einem 40-stündigen Gespräch mit Fidel Castro, über das es keine Aufzeichnungen gibt, sämtlicher Funktionen enthoben.

Jean Ziegler Archivbild

Che Guevara im Kongo 
 

Kriegsruf gegen den Imperialismus

DerKP-Apparatschiksieht in seiner persönlichen Abenteuerlust eine Bedrohung für die nationale und internationale Politik, Guevara wiederum ist es müde, als Dschungelkämpfer mit Fallschirmstiefeln am Parkett der Weltdiplomatie aufzutreten. Auch die Schreibtischarbeit eines Ministers ist nichts für den Rebellen, er will den „Menschen des 21. Jahrhunderts schaffen“ und „der Utopie den Weg frei schießen“. Er verzichtet infolge auf seine kubanische Staatsangehörigkeit. Den afrikanischen Kontinent will Guevara von Ghana aus entkolonialisieren, er und seine 125 Compañeros landen dann 1965 doch im Kongo. Die Kubaner wundern sich über den „totalen Mangel an Organisation bei den Afrikanern“. Guevara beschwert sich bei Castro abfällig über seine Gefolgschaft und verlässt den Kongo im November 1965. Nur wenige Tage später übernimmt dort Diktator Mobutu die Macht, ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg wird folgen.

Zwei, drei, viele Vietnam

Als halbglatziger, grauhaariger Geschäftsmann Ramón Benítez Fernández reist Guevara am 22. Dezember 1965 in Bolivien ein. Den USA droht er „zwei, drei, viele Vietnam“ an, und er meint das wörtlich. Der bewaffnete Kampf wird im Vorfeld von kubanischen Geheimagenten organisiert. Ausreichend Geld fließt mitunter auch im Handgepäck. Die Guerilla-Kämpfer lernen Che unter dem Decknamen Ramón kennen. Chiffrierte Nachrichten und verschlüsselte Briefe gehen zwischen Havanna und den Guerilleros in Bolivien hin und her und enttarnen das Unternehmen als geheime Staatsaktion Kubas. Das Abenteuer gleicht vielmehr einem „Survival-Training“, das schlecht organisiert ist und in dem Lebensmittelrationen ungleich verteilt werden. Auch laufen bolivianische Bauern nicht wie geplant zu den Kämpfern über, sie meiden die bewaffneten bärtigen Männer in den Bergen. Guevaras Truppe ist völlig isoliert. Vier Guerilleros sind desertiert, sechs gefallen, ein Compañero verrät ihn: Cire Bustos. Castro lässt Che indes über Radio Havanna ausrichten, dass 23 neue Guerilleros im Trainingslager in Havanna warten und ein neues, funktionierendes Funkgerät endlich im September in La Paz eintreffen werde. Die Ausrüstung der Guerilleros ist erstaunlich veraltet. 1.200 bolivianische Soldaten und eine CIA-Sondereinheit sind der Truppe jedoch längst auf den Fersen.

Portrait Jean Ziegler ©Filmstill: © Thimfilm / Dreampixies

„Jean Ziegler Der Optimismus des Willens“, ein Filmporträt von Nicolas Wadimoff
Filmstill: © Thimfilm / Dreampixies
 

Der Utopie den Weg frei schießen

Hatte die Erinnerung an die geglückte Revolution auf Kuba Guevara jedes kleine und große Unglück in Bolivien missverstehen lassen? Che will sich und der Welt beweisen, dass die Revolution in Kuba kein Zufall war und jedes Land der Dritten Welt sich nur mit einem bewaffneten Aufstand befreien könne. Dachte er, dass nach dem langen Marsch über die Insel mit Castro und seinen Compañeros, der von vielen Pannen, Katastrophen und so viel Verzweiflung begleitet war, nun auch diese Revolution nach den vielen Niederlagen irgendwann mit dem Sieg enden müsse? Anfang Oktober 1967 wird Che mit seinen Guerilleros von der bolivianischen Armee eingekesselt und tags darauf im Andendorf Vallegrande getötet. Die offizielle Version lautet: Guevara ist im Kampf gefallen. Wer erteilte letztlich den Befehl, dem Phantom der Revolution den Gnadenschuss zu versetzen? Seine Hände werden abgetrennt, er wird zur Schau gestellt und von der bolivianischen Armee an unbekannter Stelle verscharrt. Der Mythos Ché Guevara lebt jedoch bis heute fort, in Vallegrande als Fray Ernesto de la Higuera neben dem Jesus-Kreuz. Auch Jean Ziegler kniet vor seiner Ikone.


„Jedes Kind, das an Hunger stirbt, ist ein getötetes Kind!“
Jean Ziegler


Ziegler teilt die Wahrheit von der schönen Utopie einer humanen Welt ohne Ausbeuter und Unterdrücker. Damals, als Ches Chauffeur im Jahre 1964, standen beide einmal auf den Hügeln über Genf. Ziegler wollte ihm auf dem Weg der Revolution folgen, Guevara aber soll ihm gesagt haben: „Hier musst du gegen den Imperialismus kämpfen!“ „Wäre ich ihm gefolgt, wäre ich heute wahrscheinlich längst tot. Che Guevara hat mir mein Leben gerettet“, erzählt Ziegler, dessen unermüdlicher Kampf gegen den Imperialismus und für humanitäre Hilfe nicht unumstritten ist. Im Kreuzfeuer der Kritik stand er etwa als Berater afrikanischer Potentaten wie Mugabe für die neue Landreform in Zimbabwe (2002).

Wadimoffs filmisches Ziegler-Porträt ist berührend und zeigt ihn voller Widersprüche auf den Spuren Che Guevaras. Außen vor bleibt die jahrzehntelange Repression in Kuba. Aber man kann Ziegler durchaus etwas abgewinnen, wenn er auf dem Weg vom Flughafen nach Havanna feststellt, dass die spärliche Beleuchtung und fehlende Werbung eine Wohltat für die Augen ist. Nur der smarte Poster-Mann Che Guevara säumt den Weg.

Jean Ziegler – Der Optimismus des Willens - Filmcover ©Thimfilm / Dreampixies

Jean Ziegler 
Der Optimismus des Willens

Ein Film von Nicolas Wadimoff
www.thimfilm.at

Jean Ziegler 
Der schmale Grat der Hoffnung

C. Bertelsmann-Verlag, München, 2017
ISBN 978-3-570-10328-9
EUR 19,99 (D), EUR 20,60 (A), CHF 26,90

Titelbild: Jean Ziegler während seines Aufenthalts in Havanna vor einem Wandgemälde des chilenischen Malers José Venturelli im Hotel Habana Libre / Filmstill: © Thimfilm / Dreampixies