Das runde Haus mit den rollenden Betten

Das über drei konzentrischen Kreisen errichtete Herrenhaus von St. Ann’s Court in der Grafschaft Surrey, westlich von London, gehört zu den bemerkenswertesten Häusern der Moderne in Großbritannien – nicht nur wegen seiner Form und seiner modernen Beton-Bauweise, sondern auch wegen der Geschichte seiner Bewohner. Seit 2016 genießt es einen einzigartigen Denkmalschutz-Status.

Von Uwe Bresan

Die Straße ist so schmal, dass kaum zwei Autos aneinander vorbei passen – schon gar nicht die großen Land Rover, die in diesem Teil Englands gefühlt noch etwas häufiger vorkommen als in anderen Teilen; was auch damit zusammenhängen könnte, dass es in diesem Teil Englands gefühlt noch immer etwas „englandhafter“ zugeht als in andere Teilen. Wir sind in der Grafschaft Surrey, im Süden der Insel, keine Autostunde westlich der Londoner City. Das Pro-Kopf-Einkommen ist überdurchschnittlich hoch und auch das Grün der Wiesen, Hecken und Wälder scheint mitunter überdurchschnittlich grün. Die schmale, von Zäunen und alten Mauern gesäumte Straße führt in nordwestlicher Richtung aus der Ortschaft Chertsey hinaus und eine kleine Anhöhe, den St. Ann’s Hill, hinauf. Links und rechts begleitet dichtes Unterholz den Fahrtweg und an manchen Stellen wuchern die Büsche, Sträucher und Bäume so stark über die Zäune und Mauern hinweg, dass sich die Straße in einen grünen Tunnel verwandelt. Nur hin und wieder werden die haushohen Laubwände von schmalen Toreinfahrten unterbrochen. Sie sind die einzigen Hinweise auf die prächtigen Herrenhäuser und Anwesen, die sich hinter den grünen Seitenstreifen verbergen.

Unser Ziel ist das Anwesen St. Ann’s Court. Es liegt da, wo die Straße den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht und ein schlichtes, weißes, zweiflügeliges Holztor die Vorfahrt markiert. Nur auf Zehenspitzen kann man einen Blick in den dahinterliegenden, kreisrunden Hof und das weiß-strahlende Herrenhaus an dessen gegenüberliegender Seite erhaschen. Es stammt aus den späten 1930er Jahren und ist ein Werk des Architekten Raymond Mc Grath (1903–1977), der heute – wenn überhaupt – nur noch wenigen, vor allem als Interior Designer und Textilgestalter bekannt sein dürfte.

St. Anns Court – Aussenansicht zur Strasse ©The Modern House

Nur auf Zehenspitzen kann man von der Straße aus über das weiße, zweifügelige Holztor hinweg einen Blick in den kreisrunden Vorhof und auf das weiß-strahlende Herrenhaus an dessen gegenüberliegenden Seite erhaschen. Hier türmt es sich drei volle Geschoße hoch auf: Eine wuchtige Geste, die jedoch geschickt von der asymmetrischen Gliederung der Fassade unterlaufen wird. So bildet das große, über zwei Geschoße reichende Treppenhausfenster ein klares Gegengewicht zur zentral gelegenen Eingangstür. / Foto: © The Modern House
 

Der reiche Börsenhändler und sein junger Gartenarchitekt

Er kam 1926 durch ein Cambridge-Stipendium von Australien nach Großbritannien, beendete hier seine Ausbildung als Architekt und eröffnete 1930 in London sein eigenes Büro, mit dem er schnell für Aufsehen sorgte, als ihn die britische BBC mit der Ausgestaltung des damals gerade fertig gestellten Broadcasting House, der Senderzentrale am Portland Place in London, beauftragte. Für die Umsetzung arbeitete Mc Grath eng mit Serge Chermayeff (1900–1996) und Wells Coates (1895–1958) zusammen, die sich in der Folge zu führenden Vertretern der Moderne in Großbritannien entwickelten. Zu der Gruppe um Mc Grath, Chermayeff und Coates stieß bald auch der Landschaftsarchitekt Christopher Tunnard (1910–1979) hinzu. Auch er war von den Ideen der Moderne und ihrer Ästhetik überzeugt und brachte mit dem vermögenden Börsenhändler Gerald L. Schlesinger auch einen potenten Bauherrn mit in den Freundeskreis. Schlesinger war nicht nur von Tunnards Talent als Garten- und Landschaftsarchitekt überzeugt, sondern fühlte sich von dem jungen Mann auch körperlich angezogen. Tunnard erwiderte Schlesingers Gefühle und beide waren für einige Jahre ein Paar. Das elegante Herrenhaus hinter dem schlichten, weißen Holztor an der von Bäumen und Sträuchern überwucherten St. Ann’s Road in Chertsey war ihr gemeinsames Zuhause. Tunnard hatte Schlesinger dazu überredet, seinen Freund Mc Grath mit dem Entwurf des Hauses zu beauftragen. Tunnard selbst übernahm die Gestaltung des Gartens – so wie er auch den Garten von Hill House im Londoner Stadtteil Camden gestaltete, dem Haus, das Schlesinger nach der Trennung für seine Frau bauen ließ. Auch das langgestreckte, zweigeschoßige Hill House mit seinen halbrunden Schmalseiten, der asymmetrischen Fassadengliederung und dem flachen Dach war – wie Schlesingers und Tunnards Haus in Chertsey – ganz der Moderne verpflichtet. Wahrscheinlich abermals auf Tunnards Fürsprache hin, hatte Schlesinger mit dem Bau den Architekten Oliver Hill (1887–1968) und damit einen weiteren führenden Vertreter der Avantgarde beauftragt.

St. Anns Court – Erschließung Treppenhaus ©The Modern House

St. Anns Court – Wohnzimmer ©The Modern House

Der wichtigste Raum des Erdgeschoßes ist das große, runde Wohnzimmer. Seine Form folgt dem mittleren der drei Grundriss-Ringe, über denen der Architekt das Haus errichtete. Zum Garten und dem abfallenden, parkähnlich gestalteten Gelände hin öffnet sich das Wohnzimmer über raumhohe Verglasungen. Ein Ring aus schmalen Metallstützen umsteht das Zentrum des Raumes. Der Ring verweist auf den Grundriss des darüber liegenden Schlafzimmers. / Foto: © The Modern House
 

Das moderne Herrenhaus mit dem runden Schlafzimmer

Doch zurück zu Schlesingers und Tunnards eigenem Haus in Chertsey, das Raymond Mc Grath über einem äußerst bemerkenswerten, durch drei konzentrische Kreise gebildeten Grundriss konzipierte. Zur Straße und zum Vorhof hin türmt es sich drei volle Geschoße hoch auf: Eine wuchtige Geste, die jedoch geschickt von der asymmetrischen Gliederung der Fassade unterlaufen wird. So bildet das große, über zwei Geschoße reichende Treppenhausfenster ein klares Gegengewicht zu der in der zentralen, von Tor und Vorfahrt definierten Achse gelegenen Eingangstür. Den größten Reiz des runden Hauses entfaltet jedoch nicht die nach Nordosten gerichtete Eingangspartie, sondern dessen Südseite, die sich fulminant zum Garten und dem abfallenden, parkähnlich gestalteten Gelände hin öffnet. Hier hat Mc Grath den Rundbau wie einen Laib Käse aufgeschnitten und damit den inneren Aufbau des Hauses nach außen sichtbar gemacht – im Erdgeschoß das große, runde Wohnzimmer, dessen Wände dem mittleren Grundriss-Ring folgen; im darüber liegenden Geschoß das Schlafzimmer von Tunnard und Schlesinger, dessen Form wiederum dem kleinsten der drei konzentrischen Grundriss-Kreise entspricht. Dieser ist schlussendlich auch im obersten Geschoß als Negativform in Gestalt einer ausgeschnittenen Dachterrasse präsent.

St. Anns Court – Grundriss ©The Modern House
St. Anns Court – Aussenansicht Gartenseite ©The Modern House

Der Architekt Raymond Mc Grath konzipierte das Haus über einem äußerst bemerkenswerten, durch drei konzentrische Kreise gebildeten Grundriss. Den größten Reiz des runden Hauses entfaltet die Südseite, die sich fulminant zum Garten und dem abfallenden, parkähnlich gestalteten Gelände hin öffnet. Hier hat Mc Grath den Rundbau wie einen Laib Käse aufgeschnitten und damit den inneren Aufbau des Hauses nach außen sichtbar gemacht. /Foto: © The Modern House 
 

Ohne Zweifel ist Mc Grath mit dieser Anordnung eine der faszinierendsten und eigenwilligsten Schöpfungen der Moderne in Großbritannien gelungen.In jeder Hinsicht nimmt darin das gemeinsame Schlafzimmer von Tunnard und Schlesinger die zentrale Position ein. Es bildet den Fokus des Hauses und besetzt dessen Mittelpunkt sowohl im Grundriss wie auch im Schnitt. Das ganze Haus scheint, allein auf diesen Raum hin konzipiert zu sein.

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Titelbild: In jeder Hinsicht nimmt das gemeinsame Schlafzimmer von Tunnard und Schlesinger die zentrale Position des Hauses ein. Das ganze Haus scheint, allein auf diesen Raum hin konzipiert zu sein. Und dafür gab es durchaus einen guten Grund: Denn dieses gemeinsame Schlafzimmer war für Tunnard und Schlesinger nicht nur der größtmögliche Ausdruck ihrer gegenseitigen Zuneigung, sondern auch deren größte Gefahr. Denn ein Gesetz aus dem Jahr 1888 stellte jede sexuelle Handlung zwischen zwei Männern unter Strafe – auch wenn diese ausschließlich in den privaten Räumen der Beteiligten vollzogen wurde. / Foto: © The Modern House