Stifters Rosenhaus
Es mag verwegen klingen, den Ursprung der modernen Architektur ausgerechnet in den handlungsarmen Erzählungen des oberösterreichischen Biedermeier-Dichters Adalbert Stifter (1805-1868) zu verorten. Aber genau das gelingt dem jungen deutschen Architekturwissenschaftler Uwe Bresan in seinem neuen Buch über das fiktive Rosenhaus aus Stifters Roman »Der Nachsommer« von 1857. Wir haben den Autor gebeten, uns mehr über den Dichter, seine imaginäre Ideal-Architektur und deren Wirkungsgeschichte zu erzählen.
Von Doris Lippitsch
Wir schreiben das Jahr 1857 und in Paris bricht sich die literarische Moderne in Form zweier von Skandalen und Prozessen begleiteter Werke Bahn. Zum einen ermittelt die Polizei gegen den Schriftsteller Gustave Flaubert und dessen Roman »Madame Bovary«. Zum anderen steht der Dichter Charles Baudelaire wegen seiner Gedichtesammlung »Die Blumen des Bösen« vor Gericht. Zur gleichen Zeit sitzt – keine 1.000 Kilometer entfernt und doch wie auf einem anderen Planeten gelegen – im beschaulichen Linz Adalbert Stifter an den letzten Korrekturen zu seinem Opus Magnum. Auch »Der Nachsommer« wird – wie Flauberts lasterhafte »Madame Bovary« und Baudelaires diabolische »Blumen des Bösen« – ein Buch der Weltliteratur werden: Es wird das „langweiligste Buch der Weltliteratur“.
Das Rosenhaus von Theodor Fischer /
© Theodor Fischer, Sammlung Architekturmuseum der TU München
Stifters Roman ist ein Epos ohne Kampf, ein Drama ohne Konflikt, eine Erzählung ohne jeden Höhepunkt. Und so besticht die Geschichte allein durch das Ausbleiben jeglicher Ereignishaftigkeit. In nie dagewesener Langatmigkeit schildert der Dichter den Lebensweg des jungen Wanderers Heinrich Drendorf, der eines Tages von einem aufziehenden (und dann doch ausbleibenden) Gewitter überrascht wird und deshalb Ausschau nach einer Unterkunft hält. „Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder Bauernhaus noch irgendein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. ... Da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen bedeckt.“ Damit ist das so genannte Rosenhaus in die Literaturgeschichte eingeführt und unser Wanderer verbringt, nachdem er um Asyl gebeten hat, mehrere Tage in der Gesellschaft des Hausherrn und seiner Familie. Was danach auf knapp 1.000 eng bedruckten Seiten an äußerer Handlung folgt, ist des Nacherzählens kaum wert. Wir können es mit der einfachen Feststellung belassen, dass Heinrich am Ende die Tochter seines Gastgebers heiraten wird.
STIFTERS ROSENHAUS
Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte
Vorwort von Wolfgang Voigt
Gebunden, 250 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen
Verlag Alexander Koch, Leinfelden-Echterdingen, 2016
ISBN 978 3 87181 906 3
EUR 16,50
In Österreich verehrt man Dichter dafür heute als „Nationalheiligen“, vor gut 150 Jahren jedoch bedeutete »Der Nachsommer« das Ende von Stifters Karriere. Die Kritiker waren gnadenlos. „Drei starke Bände!“, schrieb Friedrich Hebbel bei Erscheinen: „Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.“ Was Hebbel jedoch übersah: Stifter hatte keinen Roman im herkömmlichen Sinne geschrieben, sondern ein „Lehrbuch des schönen Lebens“! Heute würden wir so etwas wohl einen Styleguide nennen. Denn der Dichter nutzte den vollkommenen Verzicht auf Handlung für die wohl ausführlichste, weitschweifigste und umfassendste Innenarchitekturbeschreibung der modernen Literaturgeschichte. Kein Raum des Rosenhauses wird ausgelassen. Jedes noch so winzige Zimmerchen ist eingehend und umständlich beschrieben – angefangen bei den verschiedenen Maserungen der Holzböden, über alle nur erdenklichen Details der fein-ziselierten Möbelstücke bis hin zu den unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Räume bei sich ändernden Wetterlagen.
Diese Schilderungen veranlassten in den vergangenen 150 Jahren die verschiedensten Architekten – von Joseph Maria Olbrich über Ludwig Mies van der Rohe bis zu Hans Kollhoff – dazu, mögliche Rekonstruktionen des Hauses zu entwerfen und zu der von Stifter vermittelten Idealarchitektur Stellung zu beziehen. Das unscheinbare, in die umgebende Landschaft eingebettete Rosenhaus, in dem sich schlichte Zweckmäßigkeit in der Anordnung mit edler Materialbehandlung im Detail verband und dessen architektonische Wahrhaftigkeit sich letztlich auch auf das Dasein seiner idealen Bewohner übertrug, wurde so zur heimlichen Blaupause für die Architekturmoderne des 20. Jahrhunderts.
Titelbild: © Das Rosenhaus – Bilderzimmer / © FHNW, Institut Architektur, Valerie Koch