Breslau, Wrocław – Eine Entdeckungsreise

Von Lothar Fischmann

Es beginnt schon mit der Reiseplanung in die Kulturhauptstadt 2016: mit Bahn oder Auto? Breclav ist ja ganz nahe, mit den ÖBB von Wien aus schnell erreichbar. Fehlanzeige, das war ein Tippfehler in der Suchmaschine. Breclav, das alte Lundenburg, liegt in Mähren. Also Breslau eingeben oder gleich Wroclaw? Dann wird’s kompliziert. Mehrmaliges Umsteigen, lange Reisedauer. Also fliegen? Auch nicht viel einfacher und kaum schneller. Die Entscheidung fällt aufs Auto. Lange Anfahrt, dafür landschaftlich reizvoll.

Vor dem Ersten Weltkrieg wäre es übrigens viel einfacher gewesen: mit der Bahn vom heute nicht mehr existierenden Wiener Nordwestbahnhof direkt in die damals drittgrößte deutsche Stadt (nach Hamburg und Berlin).The Times they are a changin’ (O-Ton vom frischgebackenen Literaturnobelpreisträger Bob Dylan) hätte für Breslau – heute Wroclaw – geschrieben worden sein können.

Kaum eine europäische Stadt hat derartige Transformationen erlebt und Erschütterungen durchgemacht wie die schlesische Metropole, einst habsburgische, lange eine deutsche, in der Zwischenkriegszeit eine polnische und bis 1945 wieder eine deutsche Stadt. Von Karl Hanke, Nazi-Herr der Stadt, Gauleiter Niederschlesiens und 1945 wenige Tage lang Reichsführer-SS, bis zur letzten Sekunde gegen die Besetzung der Roten Armee verteidigt, vor allem im Süden der Stadt stark zerstört, dann nach 1945 der fast totale „Austausch“ der Bevölkerung (zwangs)besiedelt mit den wiederum aus dem damals polnischen Lemberg Vertriebenen, heute Ukraine. Polnisches Leben in einer teils zerstörten, deutsch geprägten Stadt, mit knappen Mitteln wieder aufgebaut. Die vertriebenen Deutschen, über Deutschland und Österreich verteilt.

ZWERGENSTADT WROCŁAW

Sie bevölkern die Stadt, man findet sie eher zufällig, denn nach einem Plan – die Zwerge von Wroclaw.
Erstmals tauchten sie 2001 auf, die bronzenen, kniehohen Gestalten – eine Kunstaktion einiger Absolventen der Hochschule der Bildenden Künste. Die Zwerge haben besondere Bedeutung: Anfang der 1980er Jahre hatte sich nicht nur die Arbeiterbewegung Solidarnosc in Polen gegen das kommunistische Regime erhoben – in Wroclaw formten vorwiegend Studenten die friedliche „Orange Alternative“ mit Aktionen für „zivilen Ungehorsam“. Das Stadtbild heute: eine ein wenig museal anmutende, aber doch lebendige, restaurierte Altstadt, an einem der herrlichen Sommertage eine strahlend bunte Erscheinung. Fröhliche, vorwiegend junge Menschen in der Altstadt.

FRÖHLICH – WIE LANGE NOCH?

Wroclaws Auftritt als „Europäische Kulturhauptstadt“ findet in einer Entwicklungsphase Polens – nein, nicht nur Polens, sondern vieler Länder in dieser Region! – statt, in der die europäische Idee zu zerbröckeln droht: durch Nationalismen, fundamentalistische religiöse Bewegungen in der Politik, eine neue Abschottung gegen Andere und alles Andere, die beunruhigende Bedrohung der Medienfreiheit in Polen und Ungarn und drohende Wiedereinführung von dauerhaften Grenzkontrollen. Noch merkt man in diesem Sommer 2016 in Wroclaw nichts davon – hier wird Europa, seine vielfältige Kultur gefeiert. Unprätentiös, aber ungleich spannender mit einem sehenswerten Programm! 

Lothar Fischmann, langjähriger Pressesprecher der Wiener Planungsstadträte Hannes Swoboda und Rudi Schicker, Autor zahlreicher Bücher und Publikationen, Mitbegründer der NGO Österreichisch-Türkische Zusammenarbeit