Max Bergs Opus Magnum

Die Breslauer Jahrhunderthalle ist monumental, bis heute ist sie Symbol und Wahrzeichen der diesjährigen Kulturhauptstadt Breslau, ihr Entwurf ein Kristall und Sinnbild für Neues Bauen um 1910.

Von Doris Lippitsch

Wrocław. Die Jahrhunderthalle ist ein gigantisches Bauwerk, ein Gesamtkunstwerk, ein unvergesslicher Ort, der für die Breslauer Bevölkerung auch heute mit großen Emotionen verbunden ist. Die Hala Stulecia, wie sie von der Breslauer Bevölkerung genannt wird, ist ein Ort der Identifikation, der Erinnerungen, eine Konzert- Theater- und Messehalle, die bis zu 20.000 Gäste zu fassen vermag. Wer kennt nicht die permanente Licht- und Toninstallation Omicron des französischen Künstlerkollektivs AntiVJ aus dem Jahre 2004, die von Fritz Langs Metropolis und Science Fiction inspiriert ist?

Generalprobe des ‚Festspiels in deutschen Reimen‘ - 1913 © Abbildung: aus G. Hauptmann, Theater und bildende Kunst. Eine Ausstellungsreihe der Künstlergilde in Verbindung mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien. Esslingen 1984, S. 40

Generalprobe des ‚Festspiels in deutschen Reimen‘ in der Jahrhunderthalle 1913. Max Berg steht links hinter einer der Schauspielerinnen, Max Reinhardt sitzt in der Mitte, hinter ihm steht Gerhart Hauptmann. / Abbildung: aus G. Hauptmann, Theater und bildende Kunst. Eine Ausstellungsreihe der Künstlergilde in Verbindung mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien. Esslingen 1984, S. 40 

 

Eröffnet wird Max Bergs Opus Magnum 1913 mit der damals größten Orgel der Welt und einer grandiosen Aufführung von Gustav Mahlers Sinfonie der Tausend. Max Reinhardt inszeniert das Festspiel in deutschen Reimen des Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann – mit 2.000 Schauspielern und Statisten. Das Theaterstück führt mit seiner Kriegskritik zu einem Eklat und sorgt kurz vor dem Ersten Weltkrieg europaweit für ein bis dahin nie dagewesenes Medienecho. Unzählige Gäste suchten diesen Ort seitdem auf, natürlich auch Papst Johannes Paul II. Bergs Halle ist der Vorläufer der Großstadtarchitektur in den 1920ern, eine Glasarchitektur mit einer gigantischen Konstruktion aus Stahlbeton.

 Jahrhunderthalle - Konstruktion © Architekturmuseum Wrocław

Jahrhunderthalle - Konstruktion © Fotos: Courtesy Architekturmuseum Wrocław

Die Baustelle gleicht einer zeitgenössischen Fabrik für typisierte Bauelemente. Großbaustelle mit zwei 14 Meter hohen, fahrbaren Türmen der Kabelkranlage, die über Seile mit dem zentralen, 52 Meter hohen Mittelturm in Verbindung stehen und einen karusselartigen Lastenaufzug mit einer Tragekapazität von 1.600 bis 2.500 kg bilden. Am Bauplatz, der sich an der US-amerikanischen Bauindustrie orientiert: Stationen zur Betonherstellung, Steinmühlen für schlesischen Granit und ein Sägewerk zur Lieferung der Gerüst- und Schalungsbretter. Maschinen werden mit Strom oder Dampf betrieben. Ein neues Verfahren sind Präfabrikate, vorgefertigte Bauteile, das erst in den 1920ern breite Verwendung findet. Besonders qualifizierte Bauarbeiter werden eingestellt. / Fotos: © Courtesy Architekturmuseum Wrocław 

 

Heute sind alle Projektskizzen und Zeichnungen analysiert und geben neuen Aufschluss über die Jahrhunderthalle und auch die Jahrhundertausstellung. Der Stadtbaurat und Architekt Berg träumt wie viele Architekten davon, ein monumentales Werk, ein Gesamtkunstwerk, eine Art Pilgerstätte und Ersatzkirche für ein Massenpublikum zu schaffen. In seinen Entwürfen für die Jahrhunderthalle nimmt Berg ab 1910die Grundsätze des Neuen Bauens in den 1920ern vorweg, indem er die Wände durch Fensterbänder entmaterialisiert und dabei das Konstruktionsskelett des Stahlbetonbaus sichtbar lässt. Eisenbeton ist zu dem Zeitpunkt nur von Industrie- und Brückenbauten bekannt. Bergs Herangehensweise ist exemplarisch in seiner Zeit, einer Zeit lebhafter künstlerischer Debatten, wenngleich zunehmender Nationalismen.

Breslauer Markthalle © Architekturmuseum Wrocław


Breslauer Markthalle von Heinrich Küster und Richard Plüddemann, 1906–1908 – Die in Stahlbeton konstruierten parabolischen Bögen zählen zu den frühesten ihrer Art in Europa und spielen für die Jahrhunderthalle eine entscheidende Rolle.

 

PRÄLUDIUM DER GLASARCHITEKTUR

Architekten streben nach einer neuen Form für eine Architektur der Gegenwart, sie sind gegen die Historismen des 19. Jahrhunderts und den „kurzlebigen“ Jugendstil – sie sind auf der Suche nach dem „Urgrund der Architektur“. Die Jahrhunderthalle verkörpert die moderne Ästhetik der reinen Form, sie ist ein Ingenieursbau, der von innen nach außen geplant ist. Die reine Form verkörpert die Idee der absoluten Beherrschung der Natur und den unbeirrbaren Glauben an die Möglichkeiten der Technik. Berg lässt sich von der Idee einer absoluten Form leiten.

Mit der Jahrhunderthalle von Architekt Max Berg hielt die Moderne Einzug in Breslau und in die Architektur. Reminiszenzen an die Architektur des Nahen Ostens, Zikkurate, mesopotamische Tempeltürme, altägyptische und römische Architektur sind unverkennbar. Vorbild ist vor allem das antike Pantheon. Gleichermaßen lässt die Halle an die utopischen Entwürfe der Revolutionsarchitekten Ledoux und Boullée sowie an Denkmalbauten des Wilhelmismus denken. Monumentalität ist ab 1910 ein Gebot der Zeit. Die Suche nach der idealen Monumentalform spielt für den Bau eine entscheidende Rolle, schließlich ist der historische Aufruf „An Mein Volk“ des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. ihr Ausgangspunkt. In Breslau wird das Volk 1813 erstmals klassenüberschreitend zum Widerstand gegen Napoleon I. aufgerufen. Die Jahrhunderthalle wird folglich auch als Denkmal, als ein Pantheon der Reliquien aus der Zeit der Befreiungskriege errichtet, also die Zeit um 1800. Die Jahrhunderthalle ist größer und höher als die nackte Zweckmäßigkeit es erfordert, und weit weniger alltäglichen Bedürfnissen als dem Pathos einer Idee geschuldet. Sie ist als ein Dom für das Volk konzipiert.

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Titelbild: © Klimek, Architekturmuseum Breslau