Schreibstadel im Wienerwald

Vor fünf Jahren hatten Sue Architekten das alte, vollgeräumte Haus der Großmutter umsichtig in ein helles Domizil für eine Jungfamilie im Wienerwald verwandelt. Nun kam der alte Holzschuppen dran: Hinter der messingbeschlagenen Falltür öffnet sich unter dem moosigen Dach eine neue Welt.

Von Isabella Marboe

Die Urgroßmutter des Bauherrn war gebürtige Ungarin aus der Slowakei. Ein ganzes Arbeitsleben hatte sie in Wien eine Greißlerei betrieben, 1949 erwarb sie ein kleines Haus im Wienerwald, ein Sommerfrische-Domizil, Baujahr 1929. Unweit der Wiener Stadtgrenze an der Westbahn wollte sie hier auf 300 Meter Seehöhe ihren Ruhestand genießen. Im Osten verläuft die Straße, die bescheidene Wienerwaldvilla liegt hinter einem Dickicht an einem leicht ansteigenden Weg. Vor dem fünf Meter breiten, fast quadratischen Wohnraum wandte sich ein repräsentativer Erker der Straße und der Morgensonne zu, daneben lag das schmale, tiefe Esszimmer. Schwungvollführteine Freitreppe stilecht aus der Holzveranda in den Rasen, während für die kleine, fast quadratische Küche das rückwärtige Hauseck vorgesehen war.

ASYMMETRISCH UND SYMPATHISCH BESCHEIDEN

Im Einreichplan war eine Erweiterung um eine Raumachse im Süden vorgesehen, die den Erker zum zentralen Element geadelt hätte. Die Familie konnte sich das nicht leisten: Das Haus blieb asymmetrisch und sympathisch bescheiden. Auf der Südseite gab es nicht eine Öffnung: Hier wuchsen Apfelbäume, stand das Gras hoch und spielte der Bauherr oft als Kind, Später ging er nach Wien und wurde Journalist. Um seine Privatsphäre zu schützen, wird er nicht genannt. Am Rand dieser Wiese stand vor dem unbeachteten Teil des Hauses ein alter, acht Meter langer, vier Meter breiter Schuppen aus schwarzem Holz, mit Carbolineum gestrichen und stark nach Teer roch. Auf den Schindeln hatte sich Moos breit gemacht, auf dem Dachboden trocknete Wäsche, gab es tote Mäuse, Spinnweben, Wespennester, Mottenkugeln und viele Erinnerungsstücke aus der Kindheit. Ebenerdig war ein Hühner- und Hasenstall und wurde später als Waschküche, Lager und Sauna genutzt. Der Schuppen war Wirtschaftsgebäude und für die Kinder eine Wunderkammer.

Schreibstadel im Wienerwald - Detail ©Foto: Andreas Buchberger

Die Dachschrägen sind innen zur Gänze mit grau lasierten, horizontalen Fichtenlatten verkleidet. Ein einziger Lichtstreifen, der auf einer Seite die gesamte Länge entlang gleitet, verleiht dem Raum Dynamik. Auch an ausreichend Steckdosen, Scheinwerfer und Stauraum für eine Bibliothek in Kastenschränken unter der gepolsterten Plattform wurde gedacht – früher die Decke der alten Waschküche. An der verputzten, lauschigen Vorderseite mit dem kleinen Fenster im Osten hat man den Vorgarten im Blick. Von außen wirkt der Schuppen komplett unverändert. „Das Geheimnis ist, dass man das von außen nicht sieht“, sagt der Bauherr zufrieden. Dabei liegt unter dem Dach eine ganze wandelbare neue Welt verborgen: eine Spielhöhle für Kinder, eine Schreib- und Denkwerkstatt für den Bauherrn und mitunter ein romantisches Refugium für Gäste. 
 

In der Nachkriegszeit zogen Friede und Wohlstand ein. Der Großvater ließ die Veranda abreißen und hinter dem Haus ein kleines Schwimmbecken anlegen. Draußen stand eine Hollywood-Schaukel, drinnen verbreiteten eine Zirbenholzstube und falsche Holzbalken auf weiß verputzten Decken gepflegtes rustikales Flair. Außerdem gab es ein Blumenfenster voller Pflanzen und unzählige Bilder an bunten Tapeten. Als die Großmutter starb, vererbte sie das Haus ihren Enkeln. Der Journalist übernahm das Haus, zu dem Zeitpunkt war er gerade Vater geworden, ein guter Zeitpunkt also, um von der staubigen Stadt ins Grüne zu ziehen. Nur: So, wie es war, war das Haus nicht wohnlich. Der Bauherr wünschte es sich hell mit direktem Zugang zum Garten. Sue Architekten gelang es, mit wenigen Eingriffen einen bewohnbaren Setzkasten mit vielen kleinen Zimmern in ein offenes Haus von fast skandinavischer Anmutung zu verwandeln. Das glückte vor allem dank einer Maßnahme: Die gesamte Südseite des Wohnzimmers wurde mit einer großen, raumhohen Öffnung aufgebrochen. Nun fällt hier scheinbar der Garten ins Haus. Auch die Wände zwischen Küche, Wohnraum und Esszimmer wurden entfernt: Wohnen, Kochen und Essen sind so zu einem Einraum am Garten geworden, dem eine gepolsterte Sitz- und Lümmelfläche im einst repräsentativen Erker eine gemütliche Atmosphäreverleiht.

Schreibstadel im Wienerwald - Aussenanschicht © Fotos: Andreas Buchberger

Der Rasen mit den alten Apfelbäumchen wurde zur Terrasse und zu einer Art verlängertem Freiluftwohnzimmer umfunktioniert. Bodenfluter leuchten in den Baumkronen und fangen das Schauspiel der Natur das ganze Jahr über ein: Vögel bei der Balz, die ersten Blätter und Knospen im Frühling, das Reifen der Früchte, die Farbenpracht im Herbst und die Schneeflocken im Winter. Eltern und Kinder lieben diesen Raum und hängten Glühbirnen, Lampions und Futterhäuschen für die Vögel an die Äste.
 

SCHREIBSTUBE MIT HÜHNERLEITER

Fünf Jahre lang stand der alte, dunkle Schuppen unberührt am Rand der Terrasse. Lokale Handwerker rieten dazu, ihn abzureißen, doch der Bauherr brachte es nicht übers Herz. Er überlegte, was der Stadel für ihn sein könnte. Er sehnte sich einen Ort des Rückzugs, um hoch über den Niederungen des Familienlebens konzentriert schreiben zu können. Auch auf die Kinder übte das alte, dunkle, kleine Holzhaus mit seiner geheimnisvollen Aura einen besonderen Reiz aus. Sue Architekten begutachteten es sorgfältig, sein Zustand war besserals gedacht: Die äußere Hülle blieb komplett unverändert, hinter der metallbeschlagenen Falltür am Ende der steilen Hühnerleiter aber öffnet sich nun eine neue Welt: Der alte Dachstuhl wurde in den Ecken biegesteif verstärkt, leicht gedämmt und bekam auf der westlichen Stirnseite einen Stahlrahmen und eine Scheibe aus einfachem Verbundsicherheitsglas verpasst: Hier kann man nun auf die Silberzypresse schauen und sich fühlen, als könnte man direkt in ihre Nadeln greifen. Goldig und voll fällt nun das Abendlicht in den Raum, wo es von der metallenen Falltür reflektiert wird. Am Boden dürfen die alten, wurmstichigen Dielen noch ihre Patina verbreiten, sonst ist der neue Raum sehr ruhig, klar und leer. Das ist der Ort, an dem er nun sitzt, seine Gedanken schweifen lassen kann und schreibt. 

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Fotos: © Andreas Buchberger