Hala Stulecia

Anfangs ist Berg ein Gegner geometrischer Proportionen, die „Kreativität hemmen und keinen seelischen Ausdruck entstehen lassen und organischem Entwerfen zuwider laufen“. Später ändert er seine Meinung, er sieht vielmehr ein „antikes Programm der Sakral- und Weltbaukunst, dessen geheime Überlieferung aus der Zeit der ägyptischen Tempelbaukunst datiert, geheim und nur den Priestern oder den Bauhütten bekannt, auch den Bauten der romanischen und später gotischen Baukunst in Grundriss und Aufbau zu Grunde liegt“. Die wahre Raumgestaltung findet Berg in der Gotik. Das Streben nach Ordnung und Harmonie eines großen Stils teilen Walter Gropius (Fagus-Werk, 1911; Zentraler Pavillon Werkbundausstellung Köln, 1914), Bruno Taut (Bauausstellung Leipzig, 1913; Glaspavillon, Werkbundausstellung Köln, 1914) oder Erich Mendelsohn – sie sind offen für Utopien, in einer Epoche kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Grundriss Jahrhunderthalle © Architekturmuseum Wrocław


Den Grundriss der Jahrhunderthalle bildet ein innerer Kreis mit vier kreissegmentförmigen Apsiden, zugleich ist der innere Kreis das Maß für den Kuppelraum. Sein Durchmesser entspricht der Spannweite der Kuppel. Kuppel und Unterbau sind jeweils selbsttragend, konstruktiv voneinander unabhängig und durch ein System von 32 radial beweglichen Stelzenlagern mit Tangentialkippvorrichtung miteinander verbunden.

Mit den modernen technischen Möglichkeiten kann die gotische Kathedrale in eine „Kathedrale der Zukunft“ umgewandelt werden. Das Motiv des Kristallbergs ist von Paul Scheerbarts Schriften und Nietzsches Zarathustra inspiriert. Kleine Häuser sind darin Gleichnisse kleiner Seelen. Max Berg und Hans Poelzig nehmen dieses symbolische Motiv, das bis zum Turmbau von Babel zurückreicht, schon vor dem Ersten Weltkrieg auf. Die Zeichnungen der Jahrhunderthalle verkörpern die Idee einer symbolhaften Form aus Gotik und  Expressionismus. Dann, in den späten 1920ern setzt Erich Kettelhut, ein Poelzig-Schüler, das Turm-Motiv in den Kulissen für Fritz Langs Metropolis eindrucksvoll in Szene.


„Die gotische Kathedrale ist das Präludium der Glasarchitektur.“
Bruno Taut


Der Innenraum der Jahrhunderthalle ist 42 Meter hoch, die Kuppel mit Glasdach misst 23 Meter. Die Horizontale dominiert in den stufenförmig ansteigenden Fensterbändern, deren rhythmische Verjüngung die Dynamik des Baus verstärkt. Die Glaswände verleihen der monumentalen Halle Leichtigkeit. Die Rippen der Kuppel sind nicht sichtbar, sie verschwinden hinter den Fensterbändern. Berg belässt den Innenraum ohne jede Dekoration. Die konstruktiven Elemente sind sichtbar und wie die Wände aus Beton, nur die Flächen der großen Pfeiler werden für die Akustik mit einer Isolierschicht aus Zement und Kork versehen. Berg verwendet ein Modul, das dem Durchmesser des Kuppelraumes entspricht, ein ähnliches Konzept gilt für die Konstruktion.

Kuppelbau der Jahrhunderthalle © Architekturmuseum Wrocław


Jahrhunderthalle Breslau, 1911–1913 – So wurden schon die Kuppeln der Hagia Sophia in Konstantinopel sowie Michelangelos und Bramantes Projekte für die Peterskirche in Rom konstruiert. Sollte unsere heutige Technik nicht mit 65 Metern Spannung bauen können? Gerne betont Berg vor Baubeginn, dass seine Kuppelspannweite alle Rekorde brechen werde. © Foto: Architekturmuseum Wrocław


Die Breslauer Kuppel ist doppelt so groß wie das Pantheon und größer als die meisten zeitgenössischen Stahlbetonkuppeln, wiegt dabei aber nur rund die Hälfte. Berg argumentiert vor dem Breslauer Stadtrat, dass das Pantheon in Rom mit 45 Metern Spannung und die Hagia Sophia mit 35 Metern Spannung gebaut worden sind. Nur die Ausstellungskuppel in Lyon mit 110 Metern Spannweite und die Rotunde des Industriepalastes auf der Wiener Weltausstellung von Eduard van der Nüll und August von Sicardsburg mit 102 Metern Spannweite sind größer. Die Ausdehnung der Spannweite einer Stahlbetonkuppel auf über 100 Meter ist damals noch nicht möglich. Entscheidend für den Kuppelbau mit einer derartigen Spannweite ist, dass Beton und Stahl annährend über dasselbe Spannungs- und Dehnungsverhalten verfügen. Berg plant konsequent mit vorgefertigten Bauteilen und mit dem neuen Baustoff Stahlbeton in Skelettbauweise.

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Titelbild: Mit einer freien Spannweite von 65 Metern Durchmesser, einer Sockelbreite von rund 29 Metern und einer Gesamthöhe von 32,8 Metern ist sie die größte Kuppel im damaligen Deutschland – eine gigantische Volkshalle. Architekt Berg erreicht Monumentalität durch ein ausgewogenes Verhältnis von Masse und Raum sowie eine rhythmische Anordnung der stereometrischen Baukörper. Auch die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das Leipziger Völkerschlachtdenkmal von Bruno Schmitz, das Posener Schloss von Franz Schwechten oder Denkmäler der wilhelminischen Ära waren Vorläufer der visionären Projekte der Expressionisten nach 1918.