Der Architekt und sein Engel
Chen Kuen Lee (1915-2003) war ein Ausnahme-Architekt: In der Nachkriegszeit baute er Villen und Landhäuser in der südwestdeutschen Provinz, die einem James Bond würdig gewesen wären. In den Medien wurde er damals als Hauskünstler und Architektur-Rastelli gefeiert. Und auf den Partys seiner vermögenden Bauherren war er ein gern gesehener Gast. In den späten 1970er Jahren folgte jedoch der Absturz: Seine expressiven und luftigen Gebilde passten nicht mehr in die Zeit endlicher fossiler Brennstoffe. Und so wurde Lee vergessen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er zurückgezogen in einer kleinen Berliner Sozialwohnung. Durch alle Höhen und Tiefen hinweg immer an Lees Seite war sein Lebensgefährte Werner Engel. Er und Lee hatten sich in den frühen 1960er-Jahren kennen und lieben gelernt. Durch eine Ausstellung in Stuttgart und Berlin wird der in Shanghai geborene Architekt, der in den 1930ern nach Deutschland kam, aktuell wieder entdeckt. Über Engel, der mehr als 40 Jahre lang sein Leben mit Lee teilte, schweigen Ausstellung und Katalog.
Von Uwe Bresan
Wie Eisschollen schieben sich die Deckenplatten ineinander. Wo sie sich übereinander legen, dringen schmale Lichtstreifen ins Innere. Der Raum fließt auf unterschiedlichen Niveaus darunter hinweg und durch die große Glasfront in den Garten hinaus. Der schwarze Steinboden folgt ihm nahtlos. Ein kleiner Teich zieht sich wiederum von außen hinein und bildet mitten im Wohnzimmer ein amorphes Tauchbecken. An seinem Rand entfaltet sich ein grüner, dichter Wald aus großblättrigen Gewächsen, aus Palmen und tropischen Kletterpflanzen, die sich um eine filigrane, frei in den Raum schwingende Stahltreppe in die Höhe entwickeln und damit den Aufstieg zur offenen Galerieebene, wo die privaten Räume des Hausherrn und seiner Frau liegen, in einen Dschungel einhüllen. Daneben liegt die offene Bar und durch eine freistehende Wand ist ein kleiner Kinosaal abgetrennt. Im Zentrum des Grundrisses steht wiederum ein großer offener Kamin aus schwerem, dunklem Bruchsteinmauerwerk. Zwei Stufen führen in das halboffene, holzvertäfelte Rund, das ihn umgibt, hinunter. Eine mit schwarzem Leder bezogene Sitzbank folgt der offenen Rundung und schließt den höhlenartigen Raum gegen die Umgebung ab. Folgt man ihrem Verlauf, gelangt man vom Wohnraum in den offenen Essbereich, dessen Wände mit edlen, markant gemaserten Hölzern verkleidet sind. Kinder- und Gästezimmer schließen sich in einem eigenen Gebäudeflügel an. Ein dritter Flügel markiert in Richtung Straße den Eingang und nimmt die Mädchenkammer sowie die Küche auf.
Midcentury-Moderne in der deutschen Provinz
Wir kennen solche Häuser aus frühen James Bond-Filmen. 1971 etwa lässt sich Sean Connery in der Rolle des britischen Geheimagenten von zwei exotischen Akrobatinnen – ihre Namen sind Bambi und Klopfer – in einem ganz ähnlichen Interieur verprügeln, bevor er mit den beiden – im wahrsten Sinne atemberaubenden – Schönheiten im Pool des Hauses landet. Im Film, es ist übrigens die Episode „Diamonds are Forever“, sehen wir das berühmte Elrod House, das John Lautner 1968 in den Bergen über der mondänen Wüstenstadt Palm Springs realisierte. Wir sind hingegen zu Gast in der südwestdeutschen Provinz, in einer Kleinstadt zwischen Rhein und Neckar im Städtedreieck von Stuttgart, Karlsruhe und Heilbronn. (Mehr soll auf Wunsch der aktuellen Bewohner nicht verraten werden. Sie fürchten um ihre behagliche Ruhe.) Und doch verbindet die beiden Häuser ein gemeinsamer Geist. Wie die Natur ins Haus hinein geholt wird, wie Steine, Pflanzen und Wasser einen tropischen Hintergrund bilden, wie sich der Raum über Treppen, Ebenen und Niveausprünge verteilt und sich der dunkle Steinboden zum Kamin hin zur Sitzlandschaft entwickelt, das sind Motive der besonders zukunftsfreudigen und utopieverliebten amerikanischen Nachkriegsarchitektur, deren Stil wir heute gern als Midcentury-Moderne bezeichnen. In Deutschland ist es die Zeit des so genannten Wirtschaftswunders und so überholt der Begriff heute klingt, so bieder stellt man sich gemeinhin auch die deutsche Architektur jener Jahre vor. Und deshalb überrascht dieses Haus in der deutschen Provinz auch so über alle Maßen. Es steht eben nicht im milden Klima Kaliforniens und ein James Bond hat sich nie hierhin verirrt, stattdessen stehen wir im Haus des Polstermöbelfabrikanten Carl Straub, errichtet in den Jahren 1955/56. Sein Architekt war Chen Kuen Lee.
Der Hauskünstler Lee und sein Traumbauwerk
In einer Ausgabe der legendären Nachkriegsillustrierten „Film und Frau“ aus dem Jahre 1963 ist das Haus und sein Architekt beschrieben. Die Rede ist von einem „Traumbauwerk“, das der „Hauskünstler“ Lee hier gestaltet habe. Im Text wird auf die „Gefahr“ angespielt, „daß manches an solchem Traumbauwerk sich zu phantasiegeladen in spielerische Tändeleien mit Formen, Farben und Baustoffen verlieren“ könnte. Mit dem Haus sei jedoch ein „Balanceakt“ gelungen, „in dem ein Architekt mit atemberaubender Könnerschaft so tut, als ob bei allen seinen Tricks doch eigentlich gar nichts dabei wäre.“ Und so schließt sich der Vergleich mit dem „Ballzauberer Rastelli“ an, „der im Spiel mit seinen Bällen, die ihn nach seinem Willen umschwebten, auch immer wie ein lächelnder Knabe“ gewirkt habe. Der Architekt als gefeierter Jongleur und Ballakrobat, der mit dem Raum und seinen Elementen spielt, als hätten Mauern, Wände und Decken kein Gewicht; der hoch elaborierte Grundrisse mit komplexen Statiken und verschwenderischen Formen entwickelt und sich dabei die Leichtigkeit, Freude und Unverzagtheit eines spielenden Kindes bewahrt? – Wenn man die Porträts betrachtet, die von Chen Kuen Lee überliefert sind, so ist der Vergleich vielleicht gar nicht so weit hergeholt, wie man zunächst vermuten könnte. Auf Bildern wirkt der Architekt mit seiner zierlichen, ja fast knabenhaften Gestalt bis ins hohe Alter hinein seltsam alterslos. Und selbst wenn einmal kein Lächeln seine Lippen umspielt, was selten ist, so sind es seine Augen, die Lees schier unverwüstliche, innere Vergnügtheit zu verraten scheinen.
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